von Karlheinz Reimann,

geschrieben im Februar 2007, zuletzt aktualisiert im August 2021

Nach Recherchen von Uwe Fiedler in britischen Militärarchiven taucht Chemnitz erstmals im September 1941 auf einer Liste von 43 deutschen Großstädten auf, die als Ziele für schwere Luftangriffen vorgesehen sind. (1) Bereits im Oktober und November 1941 fotografierten britische Flugzeuge aus 10.000 Metern Höhe das Stadtgebiet zur weiteren Luftaufklärung und Angriffsplanung. Chemnitz, das „Sächsische Manchester“, erschien wegen der hohen Bevölkerungsdichte, der konzentrierten Hochbauzonen im Stadtzentrum und der engen Verflechtung von Fabriken und Wohnungen der Arbeiter als attraktives Ziel für schwere Bombenangriffe. Die militärische Strategie der westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg hatte im Verlauf des Krieges immer mehr zum Ziel, nicht nur  Industrie- und Verkehrsobjekte wegen  ihrer militärischen Bedeutung im Hinterland des Feindes zu zerstören, sondern auch die dazu erforderlichen Arbeits- und Verwaltungskräfte zu eliminieren oder durch Zerstörung ihrer Wohnstätten (dehousing) und Demoralisierung ihre Einsatzfähigkeit auszuschalten. So war die Zerstörung umfangreicher Wohngebiete mit vielen Toten der Zivilbevölkerung - wie im Juni 1943 in Hamburg mit 34.000 Toten in wenigen Tagen oder im Februar 1945 in Dresden mit mindestens 25.000 Toten -  nicht nur ein hingenommener Kollateralschaden, sondern offensichtlich eine vorgesehene Zielstellung. Aber Chemnitz lag zu dieser Zeit noch weit außerhalb der Reichweite von Flugzeugen der Alliierten, die nach Osten und Süden ungefähr durch eine Linie Kiel–Hannover–Kassel--Mannheim begrenzt war. Das änderte sich jedoch 1944 und besonders im Frühjahr 1945 auch für Chemnitz in dramatischer Weise, nachdem die USA, England und Kanada seit 1943 zunehmend ihre Luftflotten durch schwere viermotorische Bomber  aufgerüstet hatten und vor allem Engländer und Kandier auch in Flugzeugen über eine hochentwickelte Radartechnik verfügten, die Angriffe bei Nacht und wolkenverhangenem Himmel mit guter Zielgenauigkeit möglich machte.

 

1. Der Douhetismus - die Militärstrategie der Westalliierten im Zweiten Weltkrieg

Schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begannen militärtheoretische Analysen zum Verlauf des Kriegsgeschehens. Im Mittelpunkt stand die Frage, warum es an der Westfront in vier Jahren erbittertem Stellungskrieg  mit bisher unvorstellbar großen Opfern an Menschen und Material nicht zu einer Entscheidung gekommen ist und mit welcher Strategie in künftigen Kriegen eine Niederlage des Gegners erzwungen werden kann. Als eine wesentliche Bedingung für die Standhaftigkeit der Front wurde erkannt, dass neben der ständigen Heranführung neuer Truppen eine leistungstarke Industrie im Hinterland des Gegners ununterbrochen Nachschub an Munition, Bewaffnung, Ausrüstung und Verpflegung bereitstellen konnte. Deshalb lag es nahe, künftig eine Entscheidung an der Front durch Ausschaltung des produzierenden Hinterlandes und die Untergrabung der Moral der arbeitenden Bevölkerung  zu erreichen.

Der italienische Fliegergeneral Giulio Douhet publizierte 1921 in seinem Buch "Il dominio dell'aria" (Die Luftherrschaft)  Überlegungen zu den Kriegen der Zukunft. Er schrieb darin:

"Man stelle sich nur einmal vor, was in einer Großstadt vor sich geht, deren Zentrum im Umkreis von rund 250 Metern mit einer 20-Tonnen-Last von Luftzerstörungsmaterial verheert wird. Einschlag auf Einschlag! Brände, Explosionen, einstürzende Häuserfronten ... Das Leben dieser Stadt ist erstickt. Die großen Verkehrsadern, die sie durchziehen, sind gelähmt ... Und wenn am nächsten Tag weitere Siedlungsgebiete verwüstet werden, wer könnte dann die Bevölkerung noch abhalten, aus den Städten, welche das Ziel der feindlichen Angriffe sind, zu flüchten? Ein vollständiger Zerfall des Staatsapparates ist unvermeidlich, und der Augenblick nicht mehr fern, da die Bevölkerung ... schutzlos den Angriffen der feindlichen Luftflotten preisgegeben ... aus dem Selbsterhaltungstrieb die Einstellung des Kampfes um jeden Preis fordern wird ..." (2)

Die präzise Analyse zum Verlauf des Ersten Weltkrieges in Douhets  militärtheoretischem Werk führte bei Politikern und Militärs in vielen Industrieländern der Welt zu grundsätzlichen Überlegungen und einer neuen Militärstrategie künftiger Kriege - der Strategie des Douhetismus - bei der bisher fest verwurzelte Begriffe und definierte Unterschiede zwischen "Soldat und Zivilist", "Front und Heimat", "Gefahr draußen an der Front und Sicherheit hier im Hinterland" ihre Gültigkeit verloren. Danach sollten Widerstandsfähigkeit und Widerstandswille des Gegners hauptsächlich durch Bombenangriffe auf zivile Ziele und Städte im feindlichen Heimatgebiet gebrochen werden. Die technische Weiterentwicklung von Flugzeugen erlaubte immer mehr die praktische Umsetzung einer solchen Strategie.

Bereits 1917 hatten deutsche Gotha-Flugzeuge Bomben auf London abgeworfen. England warf 1922 Bomben auf zivile Ziele im Irak. Italien bombardierte 1935 Ziele in Abessinien (heute Äthiopien) auch mit dem Einsatz von Giftgas. Deutschlands "Legion Condor" bombardierte 1935 zur Unterstützung Francos die Stadt Guernica ohne Rücksicht auf Zivilisten. Im Zweiten Weltkrieg bombardierte die deutsche Luftwaffe Warschau und Rotterdam schwer. In England wurden 1940 Coventry, London, Plymouth, Hull, Birmingham und weiter Städte von der deutschen Luftwaffe schwer bombardiert mit insgesamt über 51.000 zivilen Todesopfern.

In England, das durch die rasante Entwicklung des Flugwesens seinen natürlichen Schutz durch die Insellage beeinträchtigt sah, wurden übereinstimmende Überlegungen von Douhet und Trenchard, der von 1919 bis 1929 die Royal Air Force (RAF) kommandierte, lange  vor dem Zweiten Weltkrieg mit besonderer Aufmerksamkeit aufgegriffen und als Zielstellung in der Trencharddoktrin formuliert. Als Arthur Harris im Februar 1942 Chef des Bomber Command wurde, suchte er die Theorie von Douhet und Trenchard in der Praxis zu beweisen. Mit der "Area Bombing Directive" (Direktive zum Flächenbombardement) wurde dieses Konzept weiter perfektioniert. Englische  Baufachleute, Physiker, Chemiker und Feuerwehrexperten arbeiteten ständig an  einer Verbesserung der Technologie, in den bombardierten Städten Flächenbrände und Feuerstürme zu entfachen. Bereits zu Kriegsbeginn standen der englischen Luftwaffe über 5 Millionen Elektron-Thermit-Stabbrandbomben zur Verfügung. Eine Unterscheidung zwischen zivilen und kriegswichtigen Objekten war bei Flächenbombardements nicht möglich und im Sinne des Douhetismus auch nicht beabsichtigt.


2. Kanadische Flieger waren an der Zerstörung von Chemnitz maßgeblich beteiligt

Nach dem Ende des Krieges galt es als sicher, dass bei den Luftangriffen auf deutsche Städte die Tagesangriffe meist von den Amerikanern, also der 8. US Army Air Force (8th USAAF), und die Nachtangriffe überwiegend von den Engländern, also dem Bomber Command der RAF ausgeführt worden sind. Tatsächlich aber war Kanada, eingebunden in Struktur und Operationen des Bomber Command der Engländer in großem Ausmaß an der Bombardierung und Verwüstung von 70 deutschen Städten und so auch an der Zerstörung von Chemnitz maßgeblich beteiligt. Hierzu mehr Licht ins Dunkel gebracht hat Peter Hessel, der in Chemnitz aufgewachsen ist, die Zerstörung von Dresden und Chemnitz erlebt hat und später als kanadischer Staatsbürger mit umfangreichen und tiefgründigen Recherchen in kanadischen Militärarchiven über die  Beteiligung kanadischer Flieger geforscht hat. In seinem Buch "Das Rätsel um den kanadischen Flieger", in dem er das Schicksal eines über Chemnitz abgeschossenen Fliegers aufgeklärt hat, der in Frankenberg im März 1945 von fanatischen Nazis erschlagen wurde, ist auch die Historie der Beteiligung Kanadas an der Bombardierung deutscher Städte  in beeindruckender Weise dargestellt. (3)

Nach Peter Hessel hatte Großbritannien 1931 im Statut von Westminster Kanada, das bis dahin ein Commonwealth-Land war, zu einem souveränen Staat erklärt und die formale Unabhängigkeit gewährt - allerdings unter der britischen Krone als Staatsoberhaupt. Vor allem aus Solidarität zu Großbritannien erklärte Kanada am 10. September 1939 Deutschland den Krieg und unterstützte neben Land- und Seestreikräften vor allem den Luftkrieg der RAF mit wachsenden Beiträgen im Laufe des Krieges. Auf 151 Flugplätzen in Kanada  wurden 131.500 Flugschüler aus Kanada und anderen Ländern der Anti-Hitler-Koalition als Piloten, Navigatoren, Bombenschützen, Bordfunker, Bordschützen und Bordmechaniker auf Kosten Kanadas ausgebildet. Kanada zahlte auch alle Kosten für die eingesetzten kanadischen Flugzeuge einschließlich der für Treibstoff und Munition.

Peter Hessel schreibt: "Das englische Bomber Command hatte sieben Einsatzgruppen. Gruppe Sechs, die größte, bestand aus 16 kanadischen Geschwadern der Royal Canadian Air Force (RCAF), jeweils mit 18 bis 26 schweren Bombern ... Kanadas Beitrag im Bomber Command erreichte seinen Höhepunkt im Jahr 1944, in dem Gruppe Sechs 25.353 Einsätze flog. Während des gesamten Krieges flog Gruppe Sechs fast 41.000 Einsätze. Ihre Besatzungen verbuchten 271.981 Flugstunden und warfen ca. 120.000 Tonnen Bomben ab - fast ein Drittel der insgesamt vom Bomber Command eingesetzten Bombentonnage. Die von Gruppe Sechs abgeworfenen Bomben verursachten einen großen Teil der nahezu 600.000 Todesopfer und ca. 650.000 Verwundeten unter der deutschen Zivilbevölkerung. In ihren 30 Einsatzmonaten verlor Gruppe Sechs 814 Flugzeuge und 3.500 ihrer Besatzungsmitglieder fanden den Tod ... Insgesamt fanden etwa 10.000 RCAF-Angehörige im Bomber Command den Tod." (4)

Am Ende des Krieges nach Ausschaltung der deutschen Luftwaffe war die RCAF die drittstärkste Luftmacht der Welt. So wundert es nicht, dass bei den Luftangriffen auf Chemnitz unter den abgeschossenen oder abgestürzten Fliegern auch eine Anzahl Kanadier war.

 

3. Bomben auf Chemnitz

In der Nacht zum 17. August 1940 warf ein verirrter Flieger erstmals Bomben auf Chemnitzer Stadtgebiet. Wie Uwe Fiedler  berichtet, gingen in der Südvorstadt ein paar Fensterscheiben kaputt, Äpfel fielen von den Bäumen und eine Gartenlaube wurde zerstört. Der „Chemnitzer Anzeiger“ brachte über diese erste Feindberührung wenige Zeilen auf der letzten Seite. Den Hauptplatz auf der ersten Seite nahmen riesige Schlagzeilen ein wie: „Ganz Birmingham ein Flammenmeer“, „Deutsche Flieger Tag und Nacht über London“ oder „Coventry ausgelöscht“. So begann der Bombenkrieg auch für die Chemnitzer zunächst siegreich und es folgten von Fliegern weitgehend unbehelligte Kriegsjahre für die Stadt.

Chemnitz – das „Sächsische Manchester“ - stand zwar wegen seiner Größe und seines Industriepotentials, über das die feindliche Aufklärung aus Büchern, Reiseprospekten, Werbeschriften und Zeitungsannoncen von Firmen vieles erfahren konnte, bereits ab September 1941 als strategisches Ziel auf ihrer Liste, lag aber zunächst nicht in der Reichweite der alliierten Bomber. Erst mit der Truppeneinführung von schweren viermotorigen Bombern Stirling, Halifax und Lancaster bei der RAF (Royal Air Force) und den Fliegenden Festungen B-17 und B-24 der USAAF (United States Army Air Force) geschützt durch begleitende Mustang-Jagdflieger konnten auch Ziele im Südosten Deutschlands erfolgversprechend angegriffen werden. Bis 1944 waren im Westen und Norden des Deutschen Reiches etwa 40 große Städte verwüstet worden, darunter im Juli/August 1943 Hamburg mit über 34.000 Toten. Davon konnte die Bevölkerung anderenorts durch die gleichgeschaltete und verlogene Propagandamaschine der Nazis oft überhaupt keine Vorstellung erlangen. Für das Abhören ausländischer Rundfunksender - wie BBC London - waren hohe Zuchthausstrafen angedroht, woran besondere Anhänger für den Rundfunkapparat ständig erinnern sollten. Aber ab 1944 geriet nun Chemnitz als Ziel immer mehr in den Brennpunkt der alliierten Bomberflotte.

 Ausländische Sender

Dieser Anhänger musste seit Beginn des Krieges1939 am Knopf für die Senderwahl des Rundfunkgerätes angebracht werden. "Feindsender abhören" konnte Zuchthaus, Konzentrationslager (KZ) oder sogar die Todesstrafe zur Folge haben. (Bild: Karlheinz Reimann)


Am Mittag des 12. Mai 1944 (13:30 bis 14:35) wurde Rabenstein mit 8 Einschlägen von ersten Bomben getroffen.  850 Fliegende Festungen B-17 und Liberators der USAAF hatten das Hydrierwerk in Brüx - Herzstück der deutschen Treibstoffversorgung -  völlig zerstört mit 750 Todesopfern in Brüx. Ein Flieger hatte auf dem Rückflug seine restliche Bombenlast  als Gelegenheitsziel über Chemnitz abgeworfen. Nach Dr. Gert Richter (5) war es der 100. Fliegeralarm, den Johannes Meier in Chemnitz akribisch aufgezeichnet hat. Der Schaden an Gebäuden war relativ gering, aber ein sieben Monate alter Säugling wurde zum ersten durch Bomben „Gefallenen“ von Chemnitz, wie Dr. Stephan Pfalzer in (6) berichtet.

Am Vormittag des 29. Juni 1944 (8:45 - 10:10) flog die 8. USAAF im Rahmen der Öloffensive zur Zerstörung der deutschen Hydrierwerke einen Angriff auf Leipzig/Böhlen. Wahrscheinlich warfen auf dem Rückflug 15 Superfestungen noch vorhandene Kampfmittel, die eigentlich für Limbach vorgesehen waren, über Chemnitz als Gelegenheitsziel ab. Beschädigt wurden Gebäude in Borna, Einschläge gab es im Küchwald und auf der Schlossteichinsel, getroffen wurden Häuser in der Matthesstrasse, Theunerstrasse und Kaßbergstrasse, aber auch wieder mehrere Häuser in Rabenstein. Vor meinen Kinderaugen habe ich noch das Haus Kaßbergstrasse 38: Es stand etwa dort, wo später der Pionierpalast, heute das „Kraftwerk“, errichtet worden ist. Es war eine freistehende dreigeschossige Villa, deren vordere Hälfte durch eine große Sprengbombe bis auf die Kellerdecke abrasiert worden war. Drei Menschen waren hier zu Tode gekommen. Viele Chemnitzer zogen in den nächsten Tagen wie zu einem Wallfahrtsort mit Kind und Kegel dorthin, um die Sensation zu bestaunen. Bei dem Anblick mag manchem Einwohner gedämmert haben, dass die gelegentlichen Luftschutzvorführungen auf der Planitzwiese, wo eine kleine   Brandbombe von einem fünfmeterhohen Holzturm herabfiel und mit Feuerpatsche, Sandeimer und Applaus der umstehenden Menschenmenge schnell gelöscht wurde, im Ernstfall wenig hilfreich sein werden. Aber viele der Menschen waren auch in dieser Zeit durch die fanatische Propaganda der Nazis immer noch verblendet, haben von einem „Endsieg“ geträumt, weil sie nach dem Kriegsende als Verlierer und der Zerschlagung der Nazi-Diktatur ein neues Leben sich nicht vorstellen konnten oder nicht vorzustellen wagten. Solche Überlegungen galten als „Wehrkraftzersetzung“ und „Volksverrat“, die mit Todesstrafe geahndet wurden.

Am Mittag des 11. September 1944 (11:30 - 13:25) erfolgte ein gezielter Angriff von 74 B-17 der USAAF begleitet von 20 Jagdflugzeugen Mustang auf die Wanderer-Werke und die Auto-Union in Siegmar. 450 Spreng- und viele Stabbrandbomben, zusammen 176 Tonnen Bomben wurden abgeworfen und setzten große Teile der Wanderer-Werke in Flammen. In der Auto-Union kamen 85 Personen, darunter 41 Fremdarbeiter, und weitere 21 Bewohner in der benachbarten Siedlung ums Leben. Der Himmel war bewölkt, aber gerade zum Bombenabwurf rissen die Wolken kurzzeitig auf. Dennoch hatte der Angriff nur eine begrenzte Wirkung. Die Bomber hatten einen Großteil der Kampfmittel über freiem Feld und der Wohnsiedlung abgeworfen. Nach einem Monat lief der Betrieb wieder weitgehend normal – und das, wie sich erst nach Kriegsende herausstellte - mit einer äußerst kriegswichtigen Produktion: Das Werk war der Alleinhersteller von Motoren für die Panzer Tiger und Leopard.
In Siegmar-Schönau zelebrierte die NSDAP eine politische Veranstaltung zur Beisetzung der Todesopfer. Die "Chemnitzer Zeitung" berichtete darüber und zitierte Goebbels: "Der kommende Sieg wird unser aller Sieg sein. Heute gilt es, für ihn einzustehen, fanatisch und bedingungslos".

Mit dieser Karte sollten Rundfunkhörer den Anflug feindlicher Flugzeuge verfolgen und sich auf Luftschutzmaßnahmen vorbereiten. Herausgegeben von der Sparkasse Chemnitz während der letzten Kriegsjahre.  (Bild: Karlheinz Reimann)


Bis Ende 1944 gab es in Chemnitz keine weiteren bemerkenswerten Angriffe. Die Alliierten waren auf die Zerstörung der Treibstoffproduktion und von Verkehrswegen im Reich zur Behinderung von Rüstungsnachschub und Truppenbewegungen konzentriert. Sie waren durch die Ardennenoffensive der Wehrmacht ab Mitte Dezember und verlustreiche Kämpfe bei Aachen gebunden sowie durch den Einsatz von V-Waffen und Strahltriebflugzeugen Me 262 der deutschen Luftwaffe über die sich bereits abzeichnende Agonie der Wehrmacht getäuscht. Im Dezember fotografierten tief fliegende Aufklärer ungehindert das Chemnitzer Stadtgebiet. In Schlesien kam die Januaroffensive der Roten Armee am deutschen Widerstand ins Stocken, und auf die dringende Bitte Stalins zur Verstärkung von Angriffen an der Westfront bereiteten die Westalliierten ab Februar, sobald es die Witterungsbedingungen zulassen würden, mit der Operation "Thunderclap" (Donnerschlag) Luftangriffe auf Berlin, Magdeburg, Dresden, Leipzig und Chemnitz vor.

Am Mittag des 6. Februar 1945 (10:50 - ohne Entwarnung) warfen 459 Fliegende Festungen der USAAF über 3000 Sprengbomben und rund 600 Splitterbomben, insgesamt 1.132 Tonnen Bomben über Chemnitz ab, wobei besonders die Hilbersdorfer Bahnanlagen das Ziel waren, aber auch erhebliche Schäden in anderen Gebieten der Stadt angerichtet wurden. Die Bahnanlagen wurden dabei nur in geringem Ausmaß beschädigt. Die Zahlenangaben über die bei den Luftangriffen beteiligten Flugzeuge und die abgeworfene Bombentonnage haben wir den intensiven Recherchen von Uwe Fiedler in amerikanischen, englischen, kanadischen und australischen Militärarchiven zu verdanken. (7)

Mittwoch, 14. Februar 1945
Am 14. Februar 1945, einen Tag nach der verheerenden Zerstörung von Dresden, wurde Chemnitz am Mittag (11:45 - 13:55), am Abend (20:35 - 22:00) und um Mitternacht  (23:55 - 1:20) schwer bombardiert. An diesem Abend wurde auch das Haus in der Beethovenstraße 46, in dem ich bis zu meinem fünften Lebensjahr aufgewachsen bin, von einer Sprengbombe getroffen und die Wohnung meiner Kindheit völlig zerstört. Bereits am Mittag warfen 306 Bomber der 8. USAAF 747 Tonnen Bomben ab. Am Abend waren jeweils  640 Bomber der RAF und RCAF mit 2.080 Tonnen Bomben über Chemnitz. Offensichtlich war Chemnitz an diesem Tag das gleiche Inferno zugedacht, wie es sich in der Nacht zuvor in Dresden ereignet hatte. Das Bomber Command unter Arthur Harris hatte einen Doppelschlag für Dresden und Chemnitz vorgesehen. Aber durch verschiedene Umstände, vor allem  sich verschlechternde Witterungsbedingungen mit einer Wolkendecke in etwa 3.000 Metern Höhe, durch eine um wenige Minuten verzögerte Ankunft der ersten Bomber über der Stadt, weshalb viele Leuchtmarkierungen der Pfadfinderflugzeuge bereits unter die Wolkendecke abgesunken waren,  sowie durch eine starke Höhenströmung aus Nordwest, wodurch die Leuchtmarkierungen nach Südost abgetrieben wurden,   ist  das Stadtzentrum Chemnitz erheblich verfehlt worden. Die angestrebte Zerstörungskraft mit einem Feuersturm wie am Vortag in Dresden wurde in Chemnitz nicht erreicht. Dafür sind Vororte im Süden von Chemnitz,  neben Erfenschlag, Reichenhain, Einsiedel auch Altenhain (8) schwer beschädigt worden. Die alliierte Wirkungsaufklärung konstatierte: Chemnitz war angeschlagen, aber noch nicht zugrunde gerichtet, was aus Sicht des Bomber Command die Vorbereitung weiterer Angriffe erforderlich machte.

Am 2. März 1945 (10:00 - 12:15) und 3. März 1945 (10:00 - 12:30) wurden jeweils am Vormittag Angriffe der USAAF auf Chemnitz geflogen. Zusammen  420 amerikanische Bomber  warfen an diesen beiden Tagen fast 1.000 Tonnen Bomben ab  mit erheblichen Schäden im gesamten Stadtgebiet. Zu einer besonderen Tragödie kam es am 2. März, als hinter dem Bahnhof Siegmar stadtwärts ein vollbesetzter Zug mit Flüchtlingen von mehren Sprengbomben getroffen wurde. Die Waggons wurden schwer beschädigt, einige stürzten vom Bahndamm herunter auf die Straße. 75 Tote, darunter 30 Kinder aus dem Zug, und 250 Verletzte waren zu beklagen. Das Hauptziel, der Rangierbahnhof Hilbersdorf, wurde kaum getroffen, aber  in der Innenstadt kam es zu erheblichen Schäden. Mehrere wichtige Industriebetriebe, darunter die weltbekannte und kriegswichtige Firma Reinecker AG, wurden dem Erdboden gleichgemacht. 540 Tote, darunter auch 39 Kinder, weil das Städtische Kinderheim auf der Bernsdorfer Straße 120 getroffen wurde, waren hier zu beklagen.  

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Amerikanische Bomber B17 beim Tagesangriff am 5. März 1945 auf Chemnitz.                                      (Bild: Schlossbergmuseum Chemnitz, mit freundlicher Genehmigung von Uwe Fiedler für die "Chemnitzer Geschichten")

 

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Führungsmannschaft eines amerikanischen Bombers vom Angriff auf Chemnitz am 2. März 1945.  (Bild: Schlossbergmuseum Chemnitz, mit freundlicher Genehmigung von Uwe Fiedler für die "Chemnitzer Geschichten")


Montag, 5. März 1945

"Ohnmächtige Angst vor den Bomben und der Schrei der Verzweiflung symbolisieren die Tragödie der Zerstörung von Chemnitz am 5. März 1945" (7)

Das Schlimmste aber stand Chemnitz noch bevor: Der Angriff am 5. März 1945. Bereits am Vormittag (9:45 - 12:10) flogen 230 amerikanische Superfestungen in zwei Wellen einen Tagesangriff und warfen 562 Tonnen Bomben ab. Es gab viele weitere Zerstörungen in der Stadt, aber das primary target, der Rangierbahnhof Hilbersdorf wurde wieder nicht getroffen.

Am Abend heulten um 20:30 Uhr die Sirenen. Eine erste Welle des Bombenabwurfs erfolgte von 20:37 Uhr bis 21:08 Uhr, eine zweite um 22:30 Uhr bis nach Mitternacht. Fast 700 britische und kanadische Halifax und Lancaster warfen ihre tödliche Last über der diesmal von den Pfadfinderflugzeugen durch „Christbäume“ gut markierten Stadt ab.  Etwa 400 Luftminen, über 1100 Tonnen Sprengbomben, Phosphorkanister und 850 Tonnen Brandbomben fielen diesmal auf das Stadtzentrum von Chemnitz.  Über 2.100 Todesopfer waren allein aus dieser Nacht zu beklagen. Von 117.000 Wohnungen waren 42.000 zerstört. 75% der bebauten Stadtfläche, 140 Kilometer Frontbebauung lagen nun in Schutt und Asche. Acht Quadratkilometer bebaute Stadtfläche wurden fast vollkommen zerstört.

Der Feuersturm in Chemnitz war schlimm, aber er konnte sich auch dieses Mal nicht in dem Ausmaß entwickeln wie in Dresden, denn es war eine frostige Nacht und es hatte Neuschnee gegeben. Zu meinen Kindheitserinnerungen in Kleinolbersdorf gehört, dass nach dem stundenlangen Getöse von Bombeneinschlägen und Bangen im Keller gegen Morgen die Mutter mit mir an der Hand zur Zschopauer Straße gelaufen ist, um auf die Stadt zu schauen. Auch außerhalb der glühendrot erleuchteten Stadt Chemnitz war die Luft frühlingshaft lau und der Schnee überall mit Rußflocken und verkohltem Papier bedeckt. Viele Menschen, oft mit geschwärzten Gesichtern und  Brandgeruch an den Kleidern, die in der Stadt alles verloren hatten und froh waren, noch am Leben zu sein, erreichten in der Morgendämmerung Ortschaften in der Umgebung, um für Tage oder Wochen eine Bleibe zu suchen. Auch meine Mutter nahm damals ein ausgebombtes Ehepaar, das uns am Ende der Nacht zum 6. März mit wenigen geretteten Habseligkeiten auf einem Handwagen erreichte, eine Zeitlang bei uns auf. Zwei Tage nach dem Angriff waren die Brände noch immer nicht gelöscht. Die alliierte Luftaufklärung registrierte „Essen und Chemnitz als zwei weitere tote Städte“.

Der letzte Bombenangriff auf Chemnitz erfolgte in der Nacht zum 11. April 1945  und traf die Gießereien der Firma Krautheim in Borna. 20 Flugzeuge der  Engländer hatten nochmals 16 Tonnen Bomben abgeladen. Aber der Angriff wurde von den Chemnitzern meist nur noch mit Apathie wahrgenommen. Die Sensibilität der Menschen für ihre Tragödie war am 5. März mit den 2.100 Toten dieser einen Nacht mitgestorben.

Chemnitz, die zerstörte Innenstadt 1949.  Blick vom Anfang der Zwickauer Straße in die Theaterstraße mit Pauli-Kirche (im April 1961 auf Anweisung der SED gesprengt) in Richtung Schlossviertel und Eltwerk Chemnitz mit den beiden  100m hohen Schornsteinen.  (Bild: Stadtarchiv Chemnitz, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Stephan Pfalzer für die "Chemnitzer Geschichten")

 

Chemnitz, die zerstörte Innenstadt 1949. Blick auf den Falkeplatz in Richtung Stadtzentrum und Rathausturm. Am rechten Bildrand eingerüstet die Deutsche Bank. (Bild: Stadtarchiv Chemnitz, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Stephan Pfalzer für die "Chemnitzer Geschichten")

 

Blick Johannisplatz

Chemnitz, die zerstörte Innenstadt 1949. Blick auf den Johannisplatz zur Theaterstraße und Königstraße (heute Straße der Nationen). Hier war ehemals das pulsierende Herz, der belebteste Platz des innerstädtischen Verkehrs von Chemnitz mit vielen Geschäften ringsum. Links der Rote Turm ohne Haube, rechts ragen die Kuppel des Opernhauses und der Turm der Petri-Kirche heraus. (Bild: Stadtarchiv Chemnitz, mit freundlicher Gnehmigung von Dr. Stephan Pfalzer für die "Chemnitzer Geschichten")


Blick Martinstraße 1

Chemnitz-Sonnenberg 1945. Blick von der Martinstraße zur Hans-Sachs-Straße. So trostlos sahen  viele Straßen der Stadt aus. Heute kann man den Mut für einen Neubeginn, für ein Leben nach dem Krieg nur bewundern, den damals Frauen, alte und versehrte Männer und auch Kinder aufgebracht haben, trotz Hunger und Kälte in den Behausungen nicht zu verzagen. (Bild: Stadtarchiv Chemnitz, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Stephan Pfalzer für die "Chemnitzer Geschichten")

 


Solche Bilder von der verheerenden Zerstörung meiner Heimatstadt Chemnitz, die ich mit sechs Jahren erlebt habe, gehören zu meinen unvergesslichen Kindheitserinnerungen. Auch das Haus meiner Kindheit auf der Beethovenstraße ist von einer Sprengbombe getroffen und weitgehend zerstört worden.  Nach 75 Jahren sind die Wunden der Luftangriffe immer noch nicht restlos verheilt, wie Freiflächen und Großbaustellen im Stadtzentrum immer noch zeigen.

Mit Blick auf das herannahende Ende des Krieges hofften im Frühjahr 1945 viele Chemnitzer, dass ihre Stadt von weiteren Luftangriffen verschont bleibt. Aber die große Industriestadt Chemnitz stand schon seit Herbst 1941 auf der Liste herausragender Ziele der Briten. Trotzdem ist Chemnitz bis 1945 verschont geblieben, weil die Westalliierten erst zunehmend ab 1944 über Bombenflugzeuge so großer Reichweite verfügten. Mit dem vorgesehenen Doppelschlag vom 13. und 14. Februar 1945 sollten Dresden und Chemnitz vernichtet werden, was am 5. März dann auch für Chemnitz weitgehend erfolgt ist.

Dennoch hatte Chemnitz möglicherweise viel Glück im Unglück. Der Historiker Alexander Demandt schreibt: „Noch ahnte Hitler nichts von Kernwaffen. Hätte seine Wehrmacht ein Vierteljahr länger durchgehalten, so wären München, Frankfurt und Berlin verglüht. Die Atombombe, von Einstein am 2. August 1939 dem Präsidenten Roosevelt empfohlen, von Oppenheimer am 16. Juli 1945 in New Mexico gezündet, war ursprünglich für Deutschland bestimmt“ (11). Vieles spricht dafür, dass Hitlerdeutschland als Urheber der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges aus Sicht der Amerikaner für einen ersten Einsatz der Atombombe besonders prädestiniert war. Wahrscheinlich hat nur das zeitliche Ende des Krieges mit der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945 den  Einsatz einer Atombombe in Deutschland verhindert. So trennten uns nur 90 Tage vom atomaren Inferno in Hiroshima am 6. August und Nagasaki am 9. August 1945. Es hätte auch Berlin und Dresden oder Chemnitz treffen können. 

4. Das Ende der Nazi-Herrschaft in Chemnitz  

Erschütternd noch heute zu lesen ist, mit welchem Realitätsverlust gemessen an der Größe des Desasters die Nazi-Führung in Chemnitz auf die Zerstörung der Stadt am 5. März 1945 und das unermessliche Leid der Einwohner reagiert hat. Zwar hatte man der Bevölkerung Hilfe nach Luftangriffen versprochen und einige Vorkehrungen getroffen, aber nach einer Verwüstung der Stadt in  solchem Ausmaß war das nahezu wirkungslos. Das Eltwerk war beschädigt, es gab zunächst weder Strom noch Gas, vielerorts fehlte es an Trinkwasser. Tote mussten geborgen, Verletzte behandelt werden. Soweit noch vorhanden, mussten aus den Trümmern Möbel geborgen und Habseligkeiten gerettet werden, aber es gab keine Transportmöglichkeiten. Die Menschen mussten sich in ihrer Not überwiegend selber helfen.

Chemnitzer Zeitung 13.5.45

Notausgabe der "Chemnitzer Zeitung" vom 13. März 1945  (Quelle: Stadtarchiv Chemnitz, mit  freundlicher Genehmigung von Dr. Stephan Pfalzer für die "Chemnitzer Geschichten") 

 

Nach einer Woche von Chaos und totalem Zusammenbruch des öffentlichen Lebens in der Stadt erschien am 13. März 1945 erstmals wieder eine Notausgabe der „Chemnitzer Zeitung“, der amtlichen Zeitung der NSDAP. Darin wurde die Zerstörung kleingeredet: „Wir leben und bauen auf, um mit verstärkter Kraft Zerschlagenes wieder gutzumachen“. Der Oberbürgermeister und SA-Gruppenführer Walter Schmidt verfügte als Leiter der Sofortmaßnahmen, dass „ab sofort jeder politische Leiter ständig Uniform zu tragen habe“. Die Menschen aber hatten ganz andere Sorgen. Viele hatten kein Obdach mehr und mussten irgendwo unterkommen. Aus einem Bunker am Kaßberg wurden „7-Tage-Lebensmittelkarten“ verteilt, aber die Geschäfte – sofern es sie noch gab – hatten keine Waren mehr. Weil es an Fahrzeugen und Treibstoff fehlte, sollten „50 Pferdefuhrwerke freiwillig bereitgestellt werden, um Trümmer von Straßen und Fußwegen zu beräumen“, hatte Schmidt angeordnet. Das war geradezu lächerlich angesichts der enormen Trümmermassen, die von acht Quadratkilometern zerstörter Stadtfläche zu beseitigen waren. Die Menschen in Chemnitz waren nach dieser Katastrophe erschöpft, entmutigt und verzweifelt. Man ersehnte ein Ende der Luftangriffe, aber man fürchtete auch die Rache der sowjetischen Besatzer.

Nicht ohne Grund, denn manche ahnten oder wussten um Verbrechen, die von Deutschen im Vernichtungskrieg in der Sowjetunion auch an der Zivilbevölkerung verübt worden sind. Wie viele Dörfer und Hütten mit alten Männern, Frauen und Kindern waren als Strafaktion für die Übernachtung von Partisanen niedergebrannt worden. Ich habe später während meiner „russischen Jahre“, während der Zusammenarbeit mit sowjetischen Ingenieuren an unserem gemeinsamen Projekt NEWA, in Leningrad (heute Petersburg) an den Massengräbern auf dem Piskarjowskoje-Friedhof gestanden. Auf Befehl Hitlers sollte die Stadt nicht eingenommen, sondern die Bevölkerung durch Hunger ausgelöscht werden. In 900 Tagen Blockade durch die deutsche Wehrmacht, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, sind hier über eine Million Männer, Frauen und Kinder erfroren und verhungert. Grauenhafte Zustände hat es in der Stadt gegeben. Die Menschen haben Hunde, Katzen, Ratten, Blätter, Sägemehl, Tapetenleim gegessen, um zu überleben. Viele Fälle von Kannibalismus haben sich ereignet. Ich bin später auch an der Schlucht von Babi Jar bei Kiew gewesen. Hier wurden im September 1941 an nur zwei Tagen von einem deutschen Sonderkommando – gemäß eigener Vollzugsmeldung nach Berlin - 33.771 Juden erschossen. Ilja Ehrenburg, führender Propagandist der Roten Armee, dessen Aufrufe bis zum letzten Sowjetsoldaten verteilt wurden, hatte geschrieben: „Tötet die Bestien, tötet die deutschen Männer und Frauen, tötet, tötet, tötet!“. Was konnte man da von den Siegern im Siegestaumel und Wodkarausch erwarten? Die sowjetische Zivilverwaltung brauchte nach Kriegsende Wochen, um Übergriffe von Soldaten, auch gegen Frauen, wirksam zu unterbinden.

Die Nazi-Führung in Chemnitz versuchte im April 1945 verbliebene Aufräumkompanien der Garnison an der Planitzstraße, Volkssturmeinheiten auch mit Minderjährigen, in Lazaretten der Stadt genesene Wehrmachtsangehörige, aber auch Teile der Bevölkerung zu mobilisieren, um Chemnitz zu verteidigen oder zum Bau von Panzersperren einzusetzen. Es war gefährlich, sich gegen solche Maßnahmen zu stellen. Das Standgericht in Chemnitz verhängte mehrere Todesurteile, auch hat es Erschießungen durch die Werwolf-Organisation gegeben. Dem Chemnitzer Historiker Eberhard Hübsch verdanken wir eine detaillierte Aufzeichnung der Ereignisse an jedem Tag im April/Mai 1945 (10).

Am 13. April 1945 hatten Panzerspitzen der Amerikaner im Westen den Stadtrand von Chemnitz erreicht. Die Amerikaner waren in Siegmar und in Glösa bis an die Autobahn vorgerückt. Hier warteten die Amerikaner vereinbarungsgemäß auf die Ankunft der Roten Armee zur Besetzung von Chemnitz. In den gut drei Wochen litt Chemnitz täglich unter Artilleriebeschuss der Amerikaner und wurde durch Tiefflieger niedergehalten. In der Stadt gab es täglich zerstörte Häuser und Tote. Vereinzelt stießen amerikanische Patrouillen nach Osten bis hinter Chemnitz vor, um nach dem Vorrücken der Roten Armee Ausschau zu halten.

In den ersten Maitagen überschlugen sich dann die Ereignisse. Am Nachmittag des 30. April hatte sich in Berlin, als der Führerbunker der Reichskanzlei von sowjetischen Granaten erschüttert wurde, der Führer Adolf Hitler „bis zum letzten Atemzug für Deutschland kämpfend“ erschossen. Sachsens Gauleiter Martin Mutschmann ordnete in Dresden am 1. Mai noch Trauerbeflaggung an. Am gleichen Tag vergiftete Magda Goebbels im Führerbunker ihre sechs Kinder mit Zyankali und danach sich selbst. Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels folgte ihnen in den Tod. Damit hatten seine selbstvernichtenden Durchhalteparolen im Sinne von „niemals kapitulieren, siegen oder untergehen“  ein Ende gefunden. In Chemnitz soll der Oberbürgermeister versucht haben, die Amerikaner zur Besetzung der Stadt zu bewegen, aber die Amerikaner hielten sich strikt an ihre Vereinbarungen mit der Roten Armee.

In Kleinolbersdorf erinnere ich mich, dass – wahrscheinlich am 6. Mai 1945 – am Vormittag sich letzte Reste der Wehrmacht zurückzogen und am Mittag eine Voraus-Einheit der Roten Armee mit amerikanischen Studebaker-LKW und angehängter Kanone aus dem Sternmühlental kommend in der Siedlung Gartenstadt eintraf. Es war eine gut situierte Elite-Einheit der Ersten Ukrainischen Front unter Marschall Konjew. Sie fuhren in der Grünanlage des Adolf-Hitler-Platzes (heute Goethering) auf, drei dieser Fahrzeuge auch in unserem Grundstück hinter dem Haus. Sie besetzten mehrere umliegende Häuser, die Bewohner wurden in einem Zimmer eingeschlossen, die Häuser vom Dachboden bis zum Keller durchsucht und Brauchbares mitgenommen. In der Küche wurde für die Mannschaft Essen gekocht, aber Kinder wurden zum Essen eingeladen: „Kleine Kind kommen essen!“ so erinnern sich manche noch. Die Einheit blieb bis zum Mittag des nächsten Tages bei uns in der Siedlung Gartenstadt. Am 6. und 7. Mai zogen Reste der Wehrmacht aus Chemnitz ab, Chemnitz wurde zur „offenen Stadt“ erklärt und kampflos übergeben. Wahrscheinlich erklärt sich daraus der Aufenthalt in Kleinolbersdorf.

Am 7.Mai 1945 ist der Oberbürgermeister Walter Schmidt wohl zu den Amerikanern nach Siegmar geflohen, jedenfalls ist er 1972 in Bayern gestorben. NSDAP-Kreisleiter Schöne soll sich am gleichen Tag mit seinem PKW nach Heidelberg abgesetzt haben.

Martin Mutschmann, einer der mächtigsten und fanatischsten der 43 Gauleiter und Vertrauter Hitlers, der auch Reichsstatthalter, Ministerpräsident von Sachsen und Reichsverteidigungskommissar war, floh am 8. Mai 1945 von Dresden über Glashütte in die Wälder des Erzgebirges nach Oberwiesenthal und verbarg sich in einem Haus in Tellerhäuser. Der neue Bürgermeister von Oberwiesenthal erhielt davon Kenntnis und veranlasste, dass noch in der Nacht des 16. Mai mehrere Nazi-Funktionäre von deutscher Polizei gestellt und verhaftet wurden. Darunter auch Mutschmann, der am nächsten Tag auf dem Marktplatz in Annaberg ausgestellt und erniedrigt wurde. Danach wurde er an die Sowjets übergeben, die ihn verhörten und einige Tage später nach Moskau in das berüchtigte Gefängnis „Lubjanka“ brachten. Stefan Heym hat darüber 1984 in seinen Roman "Schwarzenberg" - in der DDR verboten - geschrieben. Aber erst der Historiker Mike Schmeitzner konnte 2010 nach Einsicht in Akten des NKWD in Moskau Mutschmanns Ende aufklären. Das Oberste Gericht von Moskau verurteilte Mutschmann am 30. Januar 1947 zum Tode, am 14. Februar 1947 wurde er erschossen (12).

Am 8. Mai 1945 übernahm ein  Stadtkommandant der Roten Armee die Macht in Chemnitz, es begann der Aufbau einer neuen Zivilverwaltung.

Kurz nach dem Ende des Krieges brach in Chemnitz die Versorgung mit Nahrungsmitteln völlig zusammen. Jetzt stand Chemnitz vor dem Verhungern. Anton Ackermann, als Eugen Hanisch 1905 im sächsischen Thalheim geboren, war eine tragende Säule im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seit 1940 im Exil in Moskau. Als Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) und Leiter des Radiosenders "Freies Deutschland" während des Krieges war er in der sowjetischen Führung  gut  bekannt. Er nutzte seine Beziehung zu  Anastas Mikojan, Stalins Spitzenmanager für Versorgungsfragen, um Hilfe durch die Siegermacht zu organisieren. Anastas Mikojan erwirkte tatsächlich, dass Chemnitz auf Weisung Stalins Nahrungsmittel aus  sowjetischen Beständen erhielt und so in der Stadt die schlimmste Not gemildert werden konnte. In Anerkennung dessen lud Oberbürgermeister Kurt Müller (SED)   Anastas Mikojan am 7. Oktober 1961 nach Chemnitz ein und verlieh ihm die Ehrenbürgerschaft der Stadt Chemnitz (13).


5. Resümee:

Bei den schweren Luftangriffen, die Amerikaner meist bei Tag sowie Briten und Kanadier meist am Abend bis in die Nacht, vom 12. Mai 1944 bis zum 12. April 1945 über Chemnitz flogen, vernichteten 7716 Tonnen Bomben 27.000 Wohnungen, 167 Fabriken, 84 öffentliche Gebäude, Versorgungsanlagen  und Verkehrseinrichtungen. Das Hab und Gut von mehr als hunderttausend Einwohnern ging verloren. Über 4.200 Menschen verloren bei den Luftangriffen auf Chemnitz ihr Leben. Auf fast sechs Quadratkiliomern wurden 80% der Innenstadt zerstört. Beim Angriff am 5. März 1945 wurde die Bauleistung der Stadt Chemnitz von  100 Jahren in wenigen Stunden in Schutt und Asche gelegt.

Nachdem heute britische, amerikanische und kanadische Militärarchive für die historische Forschung zugänglich sind, müssen auch manche ideologischen Legenden über die Zerstörung der mitteldeutschen Städte, die in der DDR-Zeit während  des Kalten Krieges kolportiert worden sind, durch historische Fakten korrigiert werden. So hat Stalin die Westalliierten immer wieder gedrängt, ihre Angriffe an der Westfront zu verstärken, um für seine Bodentruppen an der Ostfront, die in Europa die Hauptlast des Krieges getragen haben, eine Entlastung zu schaffen. Seit 1940 haben London und viele Städte im südlichen England unter den Angriffen  deutscher Sturzkampfbomber sowie später unter den V-Waffen mit vielen zivilen Opfern schwer gelitten. Damals hatte der Bomberpilot aus Birmingham, der Bombenschütze aus London oder der Zielmarkierer aus Coventry über den  deutschen Städten  kein Mitgefühl für die Frauen und Kinder da unten. Sie alle wollten, dass dieser fürchterliche Krieg, der von Nazi-Deutschland ausgegangen war, auch ihre Städte in Brand und Schutt gelegt und viele ihrer Frauen und Kinder getötet hatte, nun endlich zu Ende geht. Vor allem Hitler selbst und die engste Nazi-Führung im Bunker der Reichskanzlei hatten seit langer Zeit jeden Realitätssinn für die militärische Lage verloren. Ihnen ging es nur noch um die Verlängerung ihrer Herrschaft oder ihres eigenen Lebens um Tage oder Stunden ohne jeden Skrupel angesichts der vielen Opfer an den Fronten. (9) 60 Jahre danach hat ein Kunstschmied und Sohn eines Bomberpiloten aus Coventry in einer Stiftung das Turmkreuz für die wieder aufgebaute Dresdener Frauenkirche neu geschaffen. Die feierliche Übergabe an die Dresdener Bevölkerung war ein bewegender Akt der Hoffnung und Versöhnung in der Zeit der Kinder und Enkel, nachdem sich die Väter und Großväter so unendlich viel Leid zugefügt haben.


Mahnmal Chemnitz

Mahnmal auf dem Chemnitzer Hauptfriedhof, das der Bildhauer Hans Dittrich geschaffen hat, für die über 4.200 Todesopfer der Bombenangriffe auf Chemnitz.      (Bild: Karlheinz Reimann)

 

So ist der 5. März als "Chemnitzer Friedenstag" alljährlich  ein Tag des Nachdenkens, des Gedenkens an die Zerstörung der Stadt und die vielen Opfer auf allen Seiten des Krieges. Dies geschieht im Wissen und Verstehen der historischen Tatsachen und Zusammenhänge. Der Krieg war zurückgekommen in das Land, von dem er 1939 ausgegangen war, nun auch nach Chemnitz. 

 

 

Quellen:

(1)  Uwe Fiedler: Code-Name "Blackfin" in Chemnitzer Erinnerungen 1945 Teil III                                          Seite 29 ff. Verlag Heimatland Sachsen GmbH Chemnitz 2006

(2)  Ebenda

(3)  Peter Hessel: Das Rätsel um den kanadischen Flieger. Sax Verlag, Beucha 2007

(4)  Ebenda         Seite 21 ff.
 
(5) Gert Richter: Chemnitzer Erinnerungen 1945 Teil1, Seite 15 ff.
                           Verlag Heimatland Sachsen GmbH  2001

(6) Stephan Pfalzer:  Chemnitzer Erinnerungen 1945 Teil 3, Seite 115.
                          Verlag Heimatland  Sachsen GmbH 2005

(7) Uwe Fiedeler: Bomben auf Chemnitz. Die Stadt im Spiegel von Luftbildern der West-
                         alliierten, Seite 17. Verlag Heimatland Sachsen GmbH 2006

(8) Karlheinz Reimann: Chemnitzer Erinnerungen 1945 Teil 3, Seite 101 ff.
                         Verlag Heimatland Sachsen GmbH 2005

(9) Henrik Eberle und Matthias Uhl: „Das Buch Hitler“. Geheimdossier des NKWD für 
                         J. W. Stalin nach Verhörprotokollen von Hitlers Persönlichem Adjutanten
                         O. Günsche  und Leibdiener H. Linge. Seite 385 ff. 
                         Gustav Lübbe Verlag, Köln 2012

(10) Eberhard Hübsch: "Chemnitzer Militärgeschichte". Mit einer Chronik der   
                        Kriegsereignisse 1945. Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins, 
                        77. Jahrbuch, Seite 75 ff.

(11) Alexander Demandt: "Es hätte auch anders kommen können",  Seite 229, 
                         Propyläen Verlag, Berlin 2010 

 (12) Mike Schmeitzner: "Der Fall Mutschmann - Sachsens Gauleiter vor Stalins
                         Tribunal",  Sax Verlag Beucha 2011 

(13) Addi Jacobi:  "Stadtstreicher Chemnitz" und "Chemnitzgeschichte.de",
                             Persönlichkeiten, Anastas Mikojan

 

 

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