von Elfriede Reimann,
geschrieben 1998, überarbeitet 2022. Bei der Recherche und Auswertung von Akten der Stasi-Unterlagenbehörde zu diesem Beitrag hat mich mein Ehemann Karlheinz unterstützt.
Mit dieser Geschichte sollen Erlebnisse im geteilten Deutschland und aus unserem Leben in der DDR, die uns zutiefst betroffen und geprägt haben, vor dem Vergessen bewahrt werden. Auch um Nachgeborenen, die heute einfach mal von Dresden nach München oder Mannheim nach Chemnitz fahren verständlich zu machen, welcher Schatz an Lebensqualität und Freiheit ihnen mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 zuteil geworden ist.
Die innerdeutsche Grenze geht mitten durch unsere Familie
Wir schreiben das Jahr 1970. Meine Eltern wollen von Mannheim zu uns nach Kleinolbersdorf, gelegen am Stadtrand von Chemnitz, das damals Karl-Marx-Stadt hieß, umziehen. Ein Jahr zuvor ist unser Andreas geboren. Unser Jörg ist schon ein großer Junge von über vier Jahren. In den vergangenen Jahren hat es immer große Schwierigkeiten gegeben, wenn die Großeltern im Sommer zwei Wochen bei uns und ihrem Enkelkind sein wollten. Man brauchte dafür eine Aufenthaltsgenehmigung der DDR. Diese musste lange Zeit vorher beim Rat des Kreises beantragt werden, und es war immer ein Bangen und Hoffen, bis man dieses amtliche Papier in den Händen hielt.
Viele Jahre zuvor hatten wir schon Erfahrungen damit gesammelt. Nicht immer gute sind es gewesen. Die Mutter war 1951 mit mir, ihrer damals 11-jährigen Tochter, zum Vater ohne behördliche Genehmigung aus der DDR über Berlin nach Westdeutschland ausgereist. Der Vater war aus amerikanischer Gefangenschaft 1946 in die amerikanisch besetzte Zone in Westdeutschland entlassen worden. Er hatte seinen Wohnsitz in Frankfurt am Main bei seiner Schwägerin und dem Schwager, dem Bruder meiner Mutter. Mein Vater hatte die DDR also nicht illegal verlassen, er war kein Bürger der DDR gewesen. Meine Mutter zählte nach Ansicht der DDR-Behörden als Bürgerin der DDR, die 1951 das Land illegal verlassen hatte.
1965 im Sommer beantragten wir zum ersten Mal für beide Eltern die besuchsweise Einreise aus der BRD in die DDR. Für die Mutter wurde sie genehmigt, für den Vater abgelehnt. Meine Mutter verbrachte allein zwei Wochen bei uns, ich war damals schwanger. Wegen der Ablehnung für meinen Vater trug Karlheinz, mein Ehemann seit 1961, schriftlich und mündlich eine Beschwerde bei der Bezirksleitung der SED Karl-Marx-Stadt vor. In dieser prangerte er diese Form von „Sippenhaftung“ an, auch weil ich nach meiner Rückkehr von Mannheim 1958 bereits Diskriminierungen durch die Gemeinde Kleinolbersdorf erfahren hatte. Der Genosse von der Bezirksleitung reagierte auf dieses Wort empfindlich. Es brachte Karlheinz eine Aussprache mit Genossen der Bezirksleitung beim Betriebsdirektor von Robotron und der Sicherheitsbeauftragten, Genossin Sachse, ein. Der Direktor Fritz Jank spielte die Sache herunter, Karlheinz streute sich Asche aufs Haupt, und wir durften für meinen Vater einen neuen Antrag einreichen, der auch genehmigt wurde. Für ihn war es das erst Mal nach dem Krieg, dass er seine Heimat wiedersehen konnte. Er war damals 65 Jahre alt.
Im Januar 1966 wurde unser Jörg geboren, im Sommer wollten beide Großeltern ihr erstes Enkelkind kennen lernen. Zunächst wurde eine Genehmigung abgelehnt. Zur Begründung der Ablehnung gab man meist fadenscheinige Dinge an, wie Mangel bei Versorgung der Bevölkerung mit Butter. Im Jahr 1968 war es der Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR. Es gab ständig irgendwelche Schwierigkeiten.
Die laufenden Probleme bei der Antragstellung zur Einreise für meinen Vater brachten uns auf den Gedanken, dass wegen seiner Mitgliedschaft in NSDAP und SA, auch weil er im Sommer 1939 für sechs Monate als Ortsgruppenleiter eingesetzt war, etwas bei der Staatssicherheit gegen ihn vorliegen könnte. In der nationalen Aufbruchstimmung nach der Demütigung Deutschlands durch das Diktat von Versailles, der existenzvernichtenden Inflation und der Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise hatte sich mein Vater der nationalsozialistischen Strömung angeschlossen, sich politisch engagiert und sicher auch markige Reden gehalten. Er glaubte fest, dass nach den Wirrnissen in der Weimarer Republik der Nationalsozialismus wirtschaftlichen Aufschwung und soziale Verbesserungen für die „kleinen Leute“ bringen wird. Das war in den Anfangsjahren auch tatsächlich so und hat den Nazis viel Zulauf eingebracht. Repressalien gegen Andersdenkende wurden da akzeptiert oder verdrängt. Aber persönlich zuleide getan hat mein Vater keinem etwas. Jedenfalls fand sich niemand mit derartigen Vorwürfen gegen ihn. Sowohl das alte SPD-Mitglied Kurt Franke als auch der ehemalige Bürgermeister Johannes Ebert hatten Karlheinz gesagt, dass Alfred Lorenz ihre politische Einstellung, an der sie festhielten, lediglich zur Kenntnis genommen und sie danach in Ruhe gelassen hätte.
Ein fast unglaublicher Vorgang
Eine wichtige Rolle in dieser Angelegenheit hat Rudi B. aus Kleinolbersdorf gespielt. Er ist nun seit fast 30 Jahren tot und es ist an der Zeit, ein ganz besonderes Geheimnis zu lüften. Genosse Rudi B. suchte stets nach Wahrheit, lehnte Verleumdungen und Denunziationen grundsätzlich ab, weil dadurch das Ansehen der DDR geschädigt würde. Später erwies sich, wie recht er damit hatte. Er war uns gut gesonnen und immer mal zu einem Gespräch bei uns, auch weil Karlheinz ihm viele Stunden Nachhilfe in Mathematik, Physik und Chemie bei seiner beruflichen Weiterbildung gegeben hatte. Er verfügte durch seine Tätigkeit in der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt irgendwie über einen Zugang zum zentralen Archiv und Informationsspeicher der Staatssicherheit auf dem Kaßberg. Er konnte uns mitteilen, dass mein Vater dort nicht erfasst war, gegen ihn also nichts vorlag. Wir waren in das strengstens gehütete Sicherheitssystem von Erich Mielke eingedrungen – ein unglaublicher Vorgang, der Stasi-General Gehlert, dem Chef der Bezirksverwaltung des MfS Karl-Marx-Stadt, riesigen Ärger bereitet hätte, wäre er damals ans Tageslicht gekommen. Aber auch Rudi B. hatte sich selbst sehr weit „aus dem Fenster gelehnt“ und damit auf unser absolutes Vertrauen gebaut. Erst im Februar 1990 war für ausgewählte Bürgerrechtler der Zugang zum Kellerraum hinter den eisernen Scherengittern erzwungen worden. Karlheinz konnte einen flüchtigen Blick auf dieses Heiligtum der Staatssicherheit erlangen, auf die vielen Regale mit Tausenden von verschlüsselt nummerierten Pappschachteln, in denen die Akten erfasster Personen und Vorgänge abgelegt waren. Die Information, dass der Vater hier keine Akte hatte, bestärkte uns bei unseren künftigen Beschwerden und gegen hinterhältige Verleumder in der Gemeindeverwaltung Kleinolbersdorf, die solches Wissen nicht hatten.
In den Jahren danach besuchten uns die Eltern fast in jedem Jahr. Wobei es mit einer Genehmigung für meinen Vater immer wieder Schwierigkeiten gab. Inzwischen hatten sie in Mannheim ihr gemeinsam betriebenes Schreibwarengeschäft verkauft und hatten einige Male den Winter in Spanien verbracht. Das Klima dort bekam dem asthmakranken Vater recht gut.
Die Absicht der Eltern zur Übersiedelung in die DDR ändert alles
Als nun 1969 ihr zweites Enkelkind Andreas geboren wurde, waren sie der Meinung, dass es zu wenig sei, einmal im Jahr die Kinder und Enkelkinder zu sehen. Also kamen sie im Sommerurlaub 1969 zu dem Entschluss, ihre Zelte in Mannheim abzubrechen und zu uns nach Kleinolbersdorf zu ziehen. Von unseren Bedenken zu diesem Vorhaben konnten wir Vater nicht überzeugen. Und weil wir das Anwesen von den Großeltern und Eltern übernommen hatten, wollten wir den Eltern diesen Umzug in die alte Heimat natürlich auch nicht verwehren, obwohl wir es für sie nicht gut gefunden haben.
Da aber die innerdeutsche Grenze zwischen beiden Orten lag, musste dies bei den zuständigen Behörden der DDR, zuerst beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt/Land, beantragt werden. Wegen einer der üblichen Beschwerden über die Ablehnung der besuchsweisen Einreise der Eltern war Karlheinz zu einer Aussprache beim Vorsitzenden des Kreisrates, Gen. Wilhelm, vorgeladen und wurde erst einmal gehörig runtergeputzt. Nachdem Karlheinz den Wunsch der Eltern zur Übersiedelung in die DDR mitgeteilt hatte, wurde er plötzlich hofiert und die Eltern erhielten über Weihnachten und Neujahr 1969/70 sofort bereitwillig eine besuchsweise Einreise. Wer zog damals schon von West nach Ost? Beim Rat des Kreises fanden umfangreiche Gespräche über die Formalitäten zu diesem Vorhaben statt. Man gab nach eingehender Prüfung (für uns unwissentlich auch durch die Staatssicherheit) die Zusicherung, dass einer Übersiedelung nichts im Wege steht. Alles weitere konnte in den folgenden Monaten mit Karlheinz als Schwiegersohn besprochen werden. In mehreren Absprachen beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt/Land Abteilung Inneres mit Gen. Köhler und Gen. Henkel wurde der Übersiedelungsvorgang in allen Details abgestimmt. Gen. Henkel war sehr entgegenkommend und hat sich als „Übersiedler“ aus Schlesien später über eine LP vom Vater mit dem gewünschten Schlesierlied sehr gefreut. Erst nach der Wende haben wir aus den Akten erfahren, dass er auch IM „Norbert“ der Stasi war und ohne Wissen seines Vorgesetzten Informationen zum Fall Lorenz an die Stasi gegeben hat. Er hat stets wahrheitsgemäß berichtet und uns geholfen, so gut er konnte und niemals geschadet.
Eine rege Betriebsamkeit begann für die Eltern, als sie wieder in Mannheim waren. Alle Haushaltsgegenstände, Möbel und Bücher mussten aufgelistet und vorab vom Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt zur Einfuhr genehmigt werden. Vor allem die Buchtitel und Verfasser mussten genau angegeben werden, und davon wurden viele gestrichen. Sie standen auf einer Indexliste und durften nicht in die DDR eingeführt werden. Vom letzten Bargeld kaufte mein Vater einen VW Käfer 1300 für damals 5.000 DM mit Ersatzteilen und Zubehör. Auch diese Einfuhr bedurfte der besonderen Genehmigung. Monate dauerte es, bis alle Formulare durch die Behörden der DDR gesichtet und genehmigt worden waren. Nun begann die Arbeit in Mannheim. Alles musste verpackt und beschriftet werden, und das akribisch übereinstimmend mit den zuvor genehmigten Listen. Die Wohnung und die Rente wurden gekündigt. Vater bekam im Westen eine Rente von 649 DM zuzüglich 61 DM Kriegsbeschädigtenrente für die Verletzung, die er in Stalingrad erlitten hatte. Hier in der DDR erwartete ihn die Mindestrente von etwa 360 Mark der DDR. Meine Mutter war erst 56 Jahre und bekam noch keine Rente. Um diese zu erreichen, hat sie später in einer Zeitungsredaktion in Karl-Marx-Stadt gearbeitet. Die vielseitigen Kontakte dort haben ihr für das Wiedereinleben hier sogar gutgetan.
Es war mit dem Rat des Kreises vereinbart, dass zuerst der Vater sich in den Zug setzt und am 2. Juni 1970 in Richtung Grenze nach Eisenach fährt. Dort sollte er von der Absprache zwischen dem Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt und den Eheleuten Alfred und Gertrud Lorenz informieren, anschließend in das Aufnahmeheim gebracht werden und uns ein Telegramm schicken, dass er eingereist ist. Danach sollte meine Mutter das Verladen des Umzugsgutes beaufsichtigen und ebenfalls die Reise nach Eisenach antreten. Es vergingen viele Tage, ein Telegramm kam nicht, mein Vater war wie verschollen. Wir versuchten nachzuforschen und erhielten auf dem Volkspolizeikreisamt Karl-Marx-Stadt zögerlich eine magere Auskunft, dass Herr Lorenz eingereist sei und sich im Aufnahmeheim Saasa/Thüringen befinde. Wir wollten ihn besuchen und fuhren am 6. Juni mit unserem Berliner Roller nach Thüringen. In einem Besucherzimmer neben dem Tor des Aufnahmeheimes wurden wir von einem älteren Herrn mit finsterer Miene empfangen. Es wurde uns lediglich gesagt, dass Herr Lorenz in die DDR eingereist sei, ein Besuch sei nicht möglich. Wir baten Grüsse auszurichten und mussten – sehr traurig – wieder heimfahren. Später haben wir erfahren, dass wir mit einem Offizier der Staatssicherheit gesprochen hatten, und mein Vater hat von unserer Besuchsabsicht erst in Kleinolbersdorf erfahren.
Die Umzugskosten wollten wir übernehmen und haben also auch die Umzugsfirma von hier aus bestellt. Der Transport sollte als Rücktransport von einem Umzug aus Karl-Marx-Stadt in die BRD erfolgen. Alles Umzugsgut aus der Wohnung in der Talstraße in Mannheim/Feudenheim wurde in einen LKW verladen. Der VW Käfer kam in den Anhänger. Das Auto war nicht zugelassen, es handelte sich um ein fabrikneues Fahrzeug, Baujahr 1969. Die Umzugskosten betrugen 1.126 Mark der DDR. Nach Abfahrt des Möbeltransportes setzte sich meine Mutter in den Zug in Richtung Eisenach, wie es mit dem Rat des Kreises vereinbart war. Sie kam am 11. Juni ebenfalls in das Aufnahmeheim Saasa, wie zuvor mein Vater auch.
Als das Umzugsgut in Karl-Marx-Stadt eingetroffen war, wurde vom Zoll - der auch Teil der Stasi war - der gesamte Transport einen Vormittag lang bis in alle Einzelheiten überprüft. Karlheinz musste viele Kartons öffnen und den Inhalt vorzeigen. Die persönlichen Medikamente der Eltern im Schubkasten des Küchenschrankes und einige weitere Kleinigkeiten standen auf keiner Liste, wurden entweder mit Zustimmung von Karlheinz „entschädigungslos eingezogen“ oder „ohne seine Zustimmung beschlagnahmt“. Am Ende gab ihm die Zöllnerin „wegen Geringfügigkeit und seiner Kooperationsbereitschaft“ alles zurück. Erst dann fuhr der Möbelwagen nach Kleinolbersdorf. Der VW Käfer wurde auf der Rampe beim Zoll aus dem Hänger ausgeladen, Karlheinz lenkte ihn angehängt an den Möbelwagen hinterher. Die beiden kleinen Räume in unserem Häuschen waren für die Eltern vorbereitet und standen nun voller Möbel und Kisten, weiteres hatten wir in der Veranda und der Garage abgestellt. Der VW Käfer wurde bei der Polizei auf den Namen Alfred Lorenz, wohnhaft Kleinolbersdorf, Mittelstraße 69T, zugelassen und bekam das Kennzeichen XP 34-37. Der Original-Fahrzeugbrief wurde eingezogen und ein DDR-Fahrzeugbrief ausgestellt mit dem Eintrag, dass das Fahrzeug in den nächsten 10 Jahren nur an das Staatliche Versorgungskontor der DDR verkauft werden kann. Die Stasi brauchte schließlich arteigene Fahrzeuge für ihre Tätigkeit im Westen.
Der Wortbruch - eine unvorstellbare Tragödie beginnt
Nun warteten wir auf die Ankunft der Eltern. Es verging Woche um Woche, aber wir bekamen keine Nachricht. Sie waren beide wie verschollen, wie vom Erdboden verschluckt. Der ABV Eberhard R. besuchte uns in der Wohnung, stellte Fragen zum Stand der Übersiedelung, nahm Briefe von den Eltern an uns mit, überzeugte sich von der Zulassung des VW. Am 9. Juli 1970 erhielten wir ein Telegramm mit dem uns erschütternden Satz: „Wir sind auf dem Weg nach Frankfurt am Main, was soll nun werden?“
Man hatte ihnen nach fünf Wochen im Aufnahmeheim Saasa mit stundenlangen Verhören kurz mitgeteilt, dass sie nicht in die DDR übersiedeln können. Mit einem Frühstücksbrot wurden sie auf dem nächstgelegenen Bahnhof Bebra in der Bundesrepublik ausgesetzt. Damit hatte keiner gerechnet, es war eine unvorstellbare Tragödie für die betagten Eltern. Sie hatten keine Wohnung mehr in Mannheim, die eine Rückkehr ermöglicht hätte. Die Eltern hatten nur je einen Koffer bei sich, gepackt für einen Aufenthalt im Aufnahmeheim. Sie hatten auch kein Geld mehr. Vorschriftsmäßig hatte mein Vater bei der Einreise am 2. Juni gutgläubig sein letztes Geld, einen Betrag von 81,56 DM 1:1 in Mark der DDR umgetauscht. Die Rente war abgemeldet. Zum Glück wurden beide bei Bruder und Schwägerin in Frankfurt aufgenommen. Meine Mutter suchte sich eine Putzstelle. Wir waren genauso verzweifelt wie die Eltern. Aber wir konnten wenigstens aktiv werden, was den Eltern verwehrt war. Und wir wurden aktiv.
Der Rat des Kreises konnte uns nicht helfen. Genosse Henkel erschien uns angesichts des Sachverhaltes ehrlich erschüttert, aber auch ehrlich ratlos. Und so verfasste Karlheinz eine Eingabe an den Staatsrat der DDR. Über den Postweg dauerte es uns zu lang. Und da wir den auf den Namen Alfred Lorenz angemeldeten VW Käfer schon einige Zeit in der DDR fuhren, brachten wir folgende Eingabe mit dem VW Käfer nach Berlin und gaben sie persönlich ab.
An den Staatsrat der
Deutschen Demokratischen Republik
102 Berlin
Marx-Engels-Platz
Karl-Marx-Stadt, am 16.07.1970
Eingabe zum Verlauf der beabsichtigten Übersiedelung des Ehepaares Lorenz aus Mannheim in die Deutsche Demokratisch Republik
Meine Ehefrau Elfriede Reimann ist 1958 aus familiären Gründen in die DDR übergesiedelt. Ihre Eltern, Frau Gertrud Lorenz, geb. am 10.4.1914 in Frankfurt am Main, Hausfrau und Herr Alfred Lorenz, geb.am 8.8.1900 in Dresden, Kaufmann (Rentner) sind wohnhaft in Mannheim und seitdem beide mehrmals in den Bezirk Karl-Marx-Stadt eingereist.
Der Vater Alfred Lorenz, war Mitglied der NSDAP, der SA und von 1938 bis 1939 in Kleinolbersdorf (Kreis Karl-Marx-Stadt/Land) kommissarisch als Ortsgruppenleiter eingesetzt. Vom 3.9.39 bis zum Kriegsende war er ununterbrochen Angehöriger der Wehrmacht und kam 1945 im Range eines Obltn. der Artillerie in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Er ist nach der Kriegsgefangenschaft in Westdeutschland geblieben und die Ehefrau hat mit der Tochter 1951 die DDR illegal verlassen.
Herr Lorenz hatte sich vor allem 1938 und 1939 in Kleinolbersdorf politisch engagiert, aber es können ihm nach Aussagen von Arbeiterveteranen sowie des 1933 von seiner Funktion verdrängten Bürgermeisters keine Ausschreitungen zur Last gelegt werden. Aufgrund von Anschuldigungen eines Bürgers bezüglich der Zugehörigkeit zur SS und NPD wurden Anträge zur besuchsweisen Einreise auch abgelehnt, zuletzt auf Grund der Eingabe eines Bürgers gänzlich. Danach wurden von Staatsorganen umfangreiche Nachforschungen durchgeführt, die aber keinerlei Belastungsmaterial gegen Herrn Lorenz ergaben.
Im Oktober 1969 habe ich im Auftrag des Ehepaares Lorenz dem Vorsitzenden des Rates des Kreises Karl-Marx-Stadt, Gen. Wilhelm, und dem Stellvertreter Inneres, Gen. Köhler, den Wunsch des Ehepaares Lorenz zur Übersiedelung in die DDR vorgetragen. Nach eingehender Prüfung dieser neuen Situation wurde mir mitgeteilt, dass von Seiten der zuständigen örtlichen Staatsorgane gegen eine Übersiedelung des Ehepaares Lorenz keine Einwände bestehen. Zur Klärung von Einzelheiten wurde im Dezember 1969/Januar 1970 eine besuchweise Einreise des Ehepaares Lorenz genehmigt und durchgeführt. Bei einer persönlichen Vorsprache des Ehepaares Lorenz beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt wurde erneut bestätigt, dass keine Einwände gegen eine Übersiedelung bestehen. Weitere Einzelheiten zum Transport des Umzugsgutes wurden in einem späteren Gespräch mit Gen. Köhler und Gen. Henkel geklärt und der organisatorische Ablauf festgelegt, nachdem der Transport des Umzugsgutes unmittelbar nach erfolgtem Grenzübertritt eingeleitet werden konnte.
Am 2.6.70 erfolgte die Einreise des Herrn Lorenz in die DDR wie vorgesehen und später seine Weiterleitung in das Aufnahmeheim Saasa. Am 5.6. wurden die Begleitpapiere für das Umzugsgut genehmigt und gleichzeitig vom Aufnahmeheim Saasa die beschleunigte Einreise der Frau Lorenz nahegelegt. Danach wurde am 11.6.70 der Transport des Umzugsgutes (einschließlich eines für die gemeinsame Familiennutzung angeschafften PKW) durchgeführt, die Wohnung der Eheleute Lorenz in Mannheim aufgegeben und es erfolgte am gleichen Tag die Einreise der Frau Lorenz in die DDR sowie ihre Weiterleitung in das Aufnahmeheim Saasa.
Am 9.7.70 wurde vom Ehepaar Lorenz in Ludwigstadt ein Telegramm aufgegeben, dass der Zuzug in die DDR abgelehnt sei. Dem Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt wurde dieser Umstand von mir mitgeteilt. Eine Information im Aufnahmeheim Saasa wurde vom Heimleiter mit dem Hinweis auf den Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt abgewiesen.
Das Ehepaar Lorenz hat in der BRD keine Wohnung und keine finanziellen Mittel mehr. Das gesamte Umzugsgut befindet sich in Kleinolbersdorf, die Umzugskosten betragen 1.200 Mark. Aufgrund der Tatsache, dass sich Argumente gegen eine Übersiedelung nur gegen Herrn Lorenz richten, ferner des Alters, des Gesundheitszustandes und der Mentalität muss in dieser Situation des enttäuschten Vertrauens mit einer Kurzschlussreaktion gerechnet werden.
Eine von uns in keiner Weise gewünschte publizistische Ausschlachtung dieses Verlaufes oder Ermittlungen durch Organe der Bundesrepublik sind auf Grund besonderer Aufträge im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung elektronischer Datenverarbeitungsanlagen über das normale Maß hinaus unangebracht. Deshalb war neben der Familienzusammenführung auch der Abbruch meiner Westbeziehungen ein Motiv für die Übersiedelung. Die Meinung im Ort nach dieser überraschenden Wendung kommt darin zum Ausdruck, dass nicht wenige Bürger uns spontan ihre Sympathie und ihr Bedauern zum Ausdruck bringen.
Da vom örtlichen zuständigen Staatsorgan auch jetzt noch keine Einwände gegen die Übersiedelung des Ehepaares Lorenz bestehen und eine anderweitige Information nicht möglich war, möchte ich mich an den Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik wenden mit der Bitte um eine Prüfung des Vorganges und einen verbindlichen Bescheid von Ihnen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Karlheinz Reimann
Der Bearbeiter beim Staatsrat der DDR, ein weißhaariger Herr im vorgerückten Alter mit einer äußeren Erscheinung ähnlich Wilhelm Pieck, der in unserem Beisein dieses Schreiben aufmerksam und mit wiederholtem Kopfschütteln las, sagte uns zum Schluss, dass er uns leider nicht helfen könne. Aber die Angelegenheit werde an den Innenminister der DDR weitergeleitet, und von dort werde man uns baldmöglichst informieren. Wir fuhren also mit dem VW Käfer von Berlin wieder nach Hause. Dieser 16. Juli war mein 30. Geburtstag.
Das Innenministerium der DDR genehmigt die Übersiedelung
Unsere Eingabe wird nun im Innenministerium der DDR bearbeitet. Der Fall wurde dort offensichtlich mit Vorrang behandelt, weil sofort erkannt wurde, welche Kampagne er in den Medien der BRD zum Nachteil der DDR auslöst, wenn er im Westen bekannt würde. Sowohl die Eltern als auch wir waren bemüht, das zu vermeiden, weil die DDR dann wahrscheinlich keine Chance für eine konstruktive Lösung mehr eingeräumt hätte. Wie später aus den Stasi-Akten hervorging, wurden wieder alle Speicher der Staatssicherheit durchsucht, aber nichts Belastendes gegen meinen Vater gefunden. Anfang August bekamen wir Besuch von zwei Beauftragten der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, die uns mitteilten: Die Bearbeitung unserer Eingabe an den Staatsrat sei abgeschlossen und einer Einreise des Ehepaares Lorenz stünde nichts mehr im Wege. Ob die Möglichkeit bestehen würde, dass wir die Eltern davon in Kenntnis setzen und sie auf die mündliche Mitteilung hin erneut einreisen würden? Ein Aufenthalt in Saasa sei nicht mehr erforderlich. Das Innenministerium der DDR hatte am 5. August Oberstleutnant Knietsch nach Karl-Marx-Stadt geschickt, um hier die Übersiedelung des Ehepaares Lorenz mit dem Rat des Kreises und dem Volkspolizeikreisamt persönlich zu regeln. Dabei sollte die Staatsicherheit in Gera, die die Abschiebung der Eltern veranlasst hatte, offensichtlich umgangen werden. Am 7. August wurde Karlheinz zum Rat des Kreises einbestellt und ihm wurde die Einreisegenehmigung für die Eltern mit dem spätestmöglichen Einreisetag 28. August übergeben. Der Rat des Kreises musste danach noch am gleichen Tag dem Innenministerium Vollzugsmeldung erstatten. Die Niederschrift darüber vom Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt ist in den Stasi-Akten enthalten und weiter unten zu lesen.
Nachdem die Eltern von dieser Wendung durch einen Brief (Telefon hatten wir nicht, eine Gesprächsanmeldung bedeutete stundenlange Wartezeit) von uns unterrichtet worden waren, packten sie erneut ihre Koffer und kamen, diesmal unbehelligt an der Grenze, mit dem Zug von Frankfurt am Main in Karl-Marx-Stadt an. Wir holten die Eltern am 21. August mit dem VW Käfer vom Bahnhof ab. In Kleinolbersdorf, wo die Sache natürlich Ortsgespräch geworden war, fiel den Denunzianten beim Anblick der Eltern fast das Gesicht aus dem Kopf.
Die Eltern hatten in Saasa zwar ein gemeinsames Zimmer, aber sie wurden einzeln, manchmal auch zu unangemessener Zeit zum Verhör geholt. Die Verhöre liefen über Stunden so ab, als ob es sich bei meinen Eltern um Straftäter handeln würde. Beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt hat Karlheinz nach der endgültigen Einreise der Eltern nochmals vorgesprochen und unsere Enttäuschung über den unwürdigen Verlauf der Übersiedelung und die gebrochenen Zusicherungen der DDR-Behörden zum Ausdruck gebracht. Genosse Henkel war bereit, wenn etwas „Gras über die Sache gewachsen“ wäre, die Namen der Denunzianten preiszugeben. Leider verstarb Genosse Henkel, bevor es dazu kam. Aber die Stasi-Akten enthalten viel mehr, als er uns hätte mitteilen können.
Dem Gesundheitszustand meines inzwischen 70-jährigen Vaters und meiner 56-jährigen Mutter hat der erniedrigende Aufenthalt in Saasa und die darauf folgende Ungewissheit in Frankfurt sehr geschadet. Es hat sehr lange gedauert, bis sich beide von der Tragödie der Übersiedelung erholt hatten. Das Aufwachsen der beiden Enkelkinder zu erleben und die Tatsache, wieder in der alten Heimat zu sein, haben zu ihrer Genesung beigetragen. Aber nach diesem Schock haben sie vielleicht auch realisiert, was sie in Mannheim aufgegeben hatten.
Die Akten der Stasi bringen es an den Tag
Nach der Wende hatte ich als Tochter die Möglichkeit, bei der Behörde für Stasi-Unterlagen Einsicht in die Stasi-Akte meines Vaters zu nehmen, die mit der Übersiedelung in die DDR angelegt worden war. Mein Vater hatte noch acht Jahre seines Ruhestandes bei uns erlebt und ist 1978 an Lungen- und Speiseröhrenkrebs gestorben. Er ist in dieser gesamten Zeit von niemandem wieder angesprochen worden bezüglich der absurden Vorwürfe, die gegen ihn während der Übersiedelung erhoben wurden, zur grotesken Abschiebung aber gab es viele Gespräche. Meine Mutter erkrankte später an Depressionen und hat sich 1982 das Leben genommen. Sie haben leider beide die Wende 1989 nicht mehr erlebt.
Beim Lesen der Stasi-Akte meines Vaters wurden mir die Erinnerungen an die Zeit im Jahre 1970 erneut gegenwärtig. Das alles liegt lange zurück, aber die Narben aus dieser Zeit werden bei mir nie ganz verblassen. Dabei war es lediglich ein Umzug in Deutschland, der damals zu einer Familientragödie geworden ist. Zwei Vernehmungsprotokolle über zusammen fünfeinhalb Stunden Verhör sind in der Akte festgehalten:
1: 5.6.70, Beginn 11 Uhr, Ende 13.30
2: 5.6.70, Beginn 14 Uhr, Ende 17 Uhr
Die Fragen waren:
- Aus welchen sozialen Verhältnissen stammen Sie ?
- Welche Schulbildung haben Sie erhalten ?
- Welche Lehr- und Arbeitstellen hatten Sie bisher ?
- Wie verlief Ihr weiteres Leben ?
- Wie erreichten Sie den Dienstgrad Oberleutnant in der Wehrmacht ?
- Welche Auszeichnungen erhielten Sie bei der Wehrmacht ?
- Warum kehrten Sie nicht in die DDR zurück, als Sie aus Gefangenschaft entlassen wurden ?
- Welche Schulden haben Sie ?
- Was für Rente haben Sie in der BRD erhalten ?
- Welchen Konten haben Sie ?
- Welche Vorstrafen haben Sie ?
- Welche Hobbys haben Sie ?
- Wie verlief Ihre gesellschaftliche Entwicklung ?
- Was sind die Gründe für Ihre Übersiedelung in die DDR ?
- Wie wurde die Übersiedelung in die DDR vorbereitet ?
- Wie wurde mit DDR-Behörden wegen Ihrer Übersiedelung verhandelt ?
- Mit wem wurde die Verhandlung geführt ?
- Was wurde auf der jeweiligen Dienststelle verhandelt ?
- Wie soll Ihr weiteres Leben in der DDR ablaufen ?
- Welche Vorstellungen haben Sie über einen Rentenerhalt in der DDR ?
- Würde Sie Ihr Schwiegersohn und Ihre Tochter unterhalten, wenn Sie in der DDR keine Rente erhalten ?
- Wann und auf welchem Wege kamen Sie jetzt in die DDR ?
- Was haben Sie jetzt in die DDR eingeführt ?
In der Akte des MfS befindet sich aber auch ein Schreiben des Stellvertretenden Vorsitzenden für Inneres, Gen. Köhler beim Rat des Kreises Karl-Marx-Stadt/Land an den Leiter des Volkspolizeiamt Karl-Marx-Stadt, Gen. Oberstltn. Seifert, datiert vom 18.8.70 mit folgendem Inhalt:
Übersiedelung des Ehepaares Lorenz in die DDR
Werter Genosse Seifert!
Bezugnehmend auf unser geführtes Telefongespräch in der Angelegenheit Lorenz betreffend die Übersiedelung in die DDR, übersende ich Ihnen im Folgenden eine aus dem Gespräch sich ergebende Aktennotiz:
Am 5.8.1970 sprach der Gen. Oberstltn. Knietsch vom MdI beim Rat des Kreises, Abteilung Innere Angelegenheiten, vor. In der mit dem Gen. Oberstltn. geführten Aussprache ging es um die Rückführung des Ehepaares Lorenz nach Westdeutschland. Im Laufe des Gespräches stellte der Gen. Knietsch fest, dass der Ursprung für die entstandene Lage in der ungenügenden Zusammenarbeit der zuständigen Organe liegt. Auch gäbe es noch Unklarheiten in der Bearbeitung von Seiten der zuständigen Stellen. Es hätte unbedingt das Aufnahmeheim vorher von der Übersiedelung mit einer konkreten Stellungnahme verständigt werden müssen. Dies hätte unter der Maßgabe geschehen können, dass der Schwiegersohn der Lorenz in einer besonderen Arbeitsstelle Dienst tut und die Unterbrechung des Westbriefwechsels und Westbesuchen durch die Übersiedelung unterbunden wird. Gen. Knietsch schlug vor, einen gangbaren Weg zu suchen, um die Angelegenheit in Zusammenarbeit mit der Eingabe des Herrn Reimann zu erledigen.
Hierzu unterbreitet er drei Möglichkeiten:
- Das Ehepaar Lorenz reist auf demselben Weg wie zuvor in die DDR ein. Sie müssten also wieder in das Aufnahmeheim und der ganze Ablauf würde von vorn beginnen. Diesen Weg fand Gen. Knietsch als nicht geeignet und lehnte in ab.
- Das Ehepaar Lorenz erhält eine Einreisegenehmigung nach Karl-Marx-Stadt und wird in das Aufnahmeheim eingewiesen. Dort verbleiben sie, bis der gesamte Vorgang abgeschlossen ist. Gegen diese Variante spricht das Alter und der Gesundheitszustand des Übersiedlers Lorenz.
- Diese Variante sieht vor, dass das Ehepaar Lorenz eine Einreisegenehmigung zur Tochter nach Kleinolbersdorf erhalten soll. Während des Besuchszeitraumes sollen die Formalitäten für die Übersiedelung in die DDR abgeschlossen werden. Als Fakt für die Begründung für die Zustimmung zur Übersiedelung soll die Funktion des Schwiegersohnes, Herrn Reimann im Vordergrund stehen. Unter Berücksichtigung des Alters und des Gesundheitszustandes des Ehepaares Lorenz wohnen sie während der Bearbeitungszeit der Angelegenheit in Kleinolbersdorf bei der Tochter. Eine schnelle und abschließende Bearbeitung sollte dabei der Maßstab sein. Ferner wurde das Verbleiben der Eheleute Lorenz in Westsdeutschland und die sich daraus evtl. ergebende politische Auswertung durch die Westdeutschen Publikationsorgane durchgesprochen und im Ergebnisdessen musste diese Variante abgelehnt werden.
Im Zusammenhang mit der Variante 3 wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer Reimann am 7. 8. 1970, 8 Uhr zum Stellvertreter des Vorsitzenden, Gen. Köhler bestellt wird. In dieser Aussprache ist Herrn Reimann mitzuteilen, dass aufgrund einer neuen Entscheidung dem Antrag seiner Schwiegereltern auf Übersiedelung in die DDR zugestimmt wurde. Weiter sind ihm die Einreisegenehmigungen für die Schwiegereltern auszuhändigen mit der Maßgabe, dass der letzte Einreisetag der 28. 8. 1970 ist. Herrn Reimann ist weiter mitzuteilen, dass sich damit seine Eingabe erledigt hat und eine Beantwortung durch das MdI nicht mehr erfolgt.
Der Gen. Knietsch wird am 7. 8. 1970 mittags den Gen. Köhler anrufen und die Erledigung der festgelegten Maßnahme als Bescheid erhalten. Nach diesem bestätigten Anruf wird der Gen. Knietsch die gesamten Unterlagen dem VPKA, Gen. Oberstltn. Seifert zuschicken.
Im Anschluss an die Aussprache wurde sofort die Kreisdienststelle des MfS und der Gen. Oberstltn. Seifert von den getroffenen Festlegungen telefonisch durch den Gen. Köhler verständigt.
Mit sozialistischem Gruß
K ö h l e r
Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres
Wie aber war es zur Abschiebung meiner Eltern in Saasa gekommen?
Dazu gibt die Stasi-Akte meines Vaters von Saasa ausführlich Auskunft. Schwerwiegende Anschuldigungen gegen meinen Vater sind hier aufgeführt, die ausschließlich aus der Gemeindeverwaltung Kleinolbersdorf stammen. Diese wurden in Saasa ohne Prüfung auf ihre Wahrheit als Tatsachen gewertet, obwohl sie sachlich und/oder zeitlich unmöglich waren:
- Alfred Lorenz habe als Mitglied der SA an tätlichen Auseinandersetzungen gegen Kommunisten am Filzteich in der Umgebung von Chemnitz teilgenommen. (Diese Ausschreitungen waren vorher geschehen, als mein Vater noch nicht in Chemnitz war und noch in Dresden wohnte).
- Er sei während des Krieges Angehöriger der SS gewesen. (Mein Vater war während des ganzen Krieges Angehöriger der Wehrmacht).
- Er sei während des Krieges als Bewachungspersonal in einem Fremdarbeiterlager im Sternmühltal Kleinolbersdorf eingesetzt gewesen. Es gäbe da Fotos, aber „man käme da nicht ran“, behauptete Bürgermeister Sparmann. (Mein Vater war ausnahmslos im Krieg. Ein solches Lager im Sternmühlental ist nicht bekannt).
- Alfred Lorenz sei in der BRD Mitglied der neonazistischen NPD. (Eine Eidesstattliche Erklärung vom Notariat in Mannheim darüber wurde beigebracht, aber nicht anerkannt: „Ach Herr Reimann, das hätten Sie sich sparen können. Für Geld wird in Westdeutschland alles bescheinigt“, so Genossin Benedix vom Rat des Bezirkes).
Diese vier Beschuldigungen gegen meinen Vater waren alle frei erfunden. Weitere Beschuldigungen, wie die Verhaftung eines Walter Morgenstern wurden ihm angehängt, obwohl sie 1933 erfolgt war, mein Vater aber erst 1935 von Dresden nach Chemnitz gekommen ist. Die Zeit als Ortsgruppenleiter wurde von tatsächlich sechs Monaten auf fünf Jahre erhöht, eine Unterschlagung und Beteiligung an einer Schwarzschlachtung während des Krieges und weiteres wurden ihm unterstellt. Neulinge im Ort, wie der von seiner „Republikflucht“ zurückgekehrte Bürgermeister Sparmann, nahm solches „Wissen“ bereitwillig an, mit dem er sich dann als persönlich wichtig in Szene zu setzten verstand. Dabei wurde nach dem Rechtsprinzip aus der Zeit von Stalins großem Terror verfahren: Nicht die Beschuldigung war zu beweisen, sondern der Beschuldigte hatte seine Unschuld zu beweisen, wobei ihm weder die „Beschuldigung“ noch die „Quelle der Beschuldigung“ zur Kenntnis gelangen durften.
Angeblicher „Wissensträger“ und „Quelle“ der Stasi in der Gemeindeverwaltung Kleinolbersdorf war der über viele Jahre dort beschäftigte Erich Günther, der auch als „Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“ (GMS) über viele Jahre der Stasi berichtet hat. Weil er nicht als IM der Stasi verpflichtet war, taucht er mit seinem echten Namen in den Stasi-Unterlagen auf. Auch in der Stasi-Akte von Karlheinz hat Erich Günther sich mit Angaben über Familienverhältnisse, ob Westfernsehen vorhanden ist, Vermutungen und Verdrehungen von Sachverhalten an die Stasi hervorgetan, die dem Niveau von „Dorftratsch“ zuzuordnen sind. Er war aber für die Stasi eine fatale Quelle, denn sie war nur an wahrheitsgemäßen Informationen interessiert und hat ihre Informanten häufig einer Wahrheitsprüfung unterzogen. Bei der Übersiedelung meiner Eltern mit unwahren Anschuldigungen gegen meinen Vater ist das gründlich schiefgelaufen. Das Wirken von Erich Günther hätte im Westen beinahe eine skandalöse Medienkampagne gegen das Ansehen der DDR ausgelöst, die das Innenministerium der DDR in letzter Minute konsequent verhindert hat.
Am 19.10.1995 ist Erich Günther verstorben. Es entsprach dem nach der politischen Wende 1989 wiedergewonnenen Recht auf freie Meinungsäußerung, dass im Auftrag seines Sohnes im Amtsblatt der Gemeinde Kleinolbersdorf-Altenhain für Erich Günther, dem Hauptinitiator der Verleumdungskampagne, dieser Nachruf gedruckt wurde:
Nachruf!
Erich Günther
32 Jahre, von 1945 bis 1977 hat er fleißig, bescheiden und immer ehrlich im Dienst der Gemeinde gearbeitet. Die ihn kannten, mochten und schätzten sind traurig.
Fehlende Toleranz heutiger Amtsträger kann nicht löschen, dass Erich Günther mit seiner Überzeugung und den damaligen Möglichkeiten erfolgreich für seinen Geburtsort gearbeitet hat.
Für alle aufrichtigen Menschen unserer Gemeinde bleibt er unvergessen.
Siegfried Günther
Nach all diesen Erfahrungen, aber nicht nur aus diesen, haben wir beide, Karlheinz und Elfriede Reimann geb. Lorenz, uns aktiv in der Wendebewegung und danach beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse in Kleinolbersdorf eingesetzt.