von Karlheinz Reimann, geschrieben im Juni 2018.
Der Herbst 1989 war in der DDR eine wunderbare Zeit, in der die Menschen ihr Selbstbewusstsein neu entdeckten und so manches Geheimnis der Vergangenheit aufklärten, um bei der Gestaltung der Zukunft von ihrer Mitwirkung nicht mehr ausgeschlossen zu sein. Eines dieser Geheimnisse über viele Jahre war der Bunker auf der Dittersdorfer Höhe.
Hochgelegen im Wald oberhalb des Ortseingangs von Dittersdorf wurde 1973 ein weiträumiges Gelände eingezäunt. In kurzen Abständen waren am Zaun Schilder angebracht mit der Aufschrift „Trinkwasserschutzgebiet! Betreten verboten!“ Natürlich hat das niemand geglaubt. Im Herbst 1989 wollten viele Einwohner nun wissen, was sich hier an diesem geheimnisvollen Ort in Wirklichkeit befindet. Organisiert durch das Neue Forum versammelten sich am 9. Dezember 1989 um 9 Uhr ca. 100 Bürger vorwiegend aus Dittersdorf, Kleinolbersdorf, Altenhain und Einsiedel vor dem Gelände auf der Dittersdorfer Höhe und verlangten Einlass. Nach zäher Verhandlung, vor allem durch Joachim Heinik, der die Bürgeraktion geleitet hat, beendete Oberleutnant der VP Jürgen Schreiter in eigener Entscheidung die destruktive Diskussion, übernahm eine Sicherheitsgarantie für seine Mitarbeiter und ließ das Tor zum Gelände für alle Teilnehmer öffnen. Zunächst wurden die Besucher in den Speisesaal in einer Baracke geführt. Der junge Staatsanwalt Börner und die "Freie Presse" waren auch anwesend. Später wurden alle Besucher in kleinen Gruppen durch den hier befindlichen Bunker geführt. Dabei konnten auch die zur Tarnung vorhandenen Zugangsbauten und Außenanlagen wie Hundezwinger und Trinkwasserbrunnen besichtigt werden.
Durch die Begehung und später aus den Unterlagen der Stasi weiß man heute sehr viel mehr. Bei diesem Bunker "Objekt Tanne" handelte es sich um die Ausweichführungsstelle (AFüSt) des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Siegfried Gehlert. Der Bunker war nach dem Ausbau der WTsch-Technik (hochfrequenzverschlüsselte Telefonverbindungen des Warschauer Paktes) am Tag vorher von der Stasi an die Volkspolizei übergeben worden. Der zwischen 1974 und 1979 errichtete Bunker Typ 1/15/V2 hat eine Fläche von 1.286 Quadratmetern, ein Volumen von 12.000 Kubikmetern und konnte zu einem großen Teil hermetisiert werden. Seine Sohle liegt 4 Meter tief in der Erde. Er hat aber nur eine Erdüberdeckung von 1,80 Metern, weshalb er später zu einem großen Teil noch mit 30 Zentimeter dicken Betonplatten überdeckt wurde.
Es gab zwei gegenüber liegende Zugänge zum Bunker, die sich jeweils unter einem schuppenähnlichen Tarngebäude befanden. Nachdem hier eine dicke Betonplatte auf Stahlschienen beiseite gefahren wurde, gelangte man über eine Treppe zum tiefer gelegenen Bunker. Zuerst musste man eine Schleuse mit Duschen zur Dekontaminierung von Personen und Gegenständen passieren. Im Falle militärischer, auch atomarer Einwirkungen auf Karl-Marx-Stadt konnten hier 130 Mitarbeiter, darunter 4 Mitarbeiter des sowjetischen KGB, mit Vorräten für 14 Tage ausharren. Zellen mit gestockten Betten, Sanitäreinrichtungen, ein Küchentrakt, Lebensmittellager, Einrichtungen zur medizinischen Versorgung, Arbeitsplätze und umfangreiche Technik waren vorhanden. 6000 Liter Trinkwasser und 5000 Liter Diesel für zwei große und vier kleinere Notstromaggregate konnten eingelagert werden. Geheime Kommunikationsverbindungen (WTsch-Technik) zu den Zentralen von MfS, MdI, NVA, SED in der ganzen DDR und zum KGB waren installiert. Für den Fall, dass die Kabelverbindungen zerstört sein sollten, war eine in 3km Entfernung abgesetzte Funksendestelle (Grenzwelle 3 bis 6MHz, 1000W) mit in der Erde vergrabenen Antennen sowie maskiert an einem Lichtmast am Rande der Wohnbebauung von Gornau vorhanden. Bei Anpeilung der Sendestelle sollte ein möglicher Beschuss dorthin gelenkt werden. Für die Hermetisierung des Bunkers waren Atemluftvorräte in Druckluftflaschen eingelagert und Ausrüstungen zur Luftregenerierung aus sowjetischer U-Boot-Technik vorhanden. Kies-Druckwellendämpfer sollten die Luftdruckwelle bei einer atomaren Explosion über Karl-Marx-Stadt mildern. Bei totalem Stromausfall konnten mehrere Belüftungsanlagen wie mit einem Fahrradergometer betrieben werden. Mehrere Schächte mit Steigeisen für einen Notausstieg führten ins Freie.
Nach der Besichtigung des Bunkers kehrten viele Teilnehmer mit großer Betroffenheit in den Speisesaal zurück und diskutierten das Gesehene. Betroffen über die offensichtliche Entschlossenheit, mit der die SED-Führung für den Fall einer militärischen Konfrontation mit dem Gegner den "Verteidigungszustand" einkalkuliert und sich real darauf vorbereitet hatte. Während im Kriegsfall die im Bunker befindlichen Personen einen sehr begrenzten Schutz hatten, war für die Bevölkerung keinerlei Schutz vorgesehen. Eine fundamentale Lehre aus dem Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion führte zur sowjetischen Militärdoktrin, künftig einen Aggressor auf "seinem eigenen Territorium zu zerschlagen". Beim Einsatz konventioneller oder atomarer Waffen hätte man danach dem vermeintlichen oder tatsächlichen Aggressor zuvorkommen müssen. Der Erstschlag hätte also vom Warschauer Pakt geführt werden müssen. Es war dringend geboten, die Gefahr eines militärischen Konfliktes in Deutschland zu entschärfen und letztlich zu beseitigen. Zu diesem Aspekt wird die Bedeutung der Bürgerbewegung 1989 in der DDR, durch die das militärische Konfliktpotential auf friedliche Weise abgebaut worden ist, auch für die Menschen im Westen oft nicht entsprechend erkannt und gewürdigt.
Zur Vorlage von Bauunterlagen des Bunkers und weitere Befragungen wurde der Objektverantwortliche für den Bunker, Stasi-Oberstleutnant Peter Kratzer, geholt und kommt, merkbar alkoholisiert, in ein schweres Kreuzverhör. Es ist bizarr: Seit 1983 hat er alle Niederschriften zum Bunker unterzeichnet. Er hat die Bekämpfung mit der Waffe von auf das Bunkergelände eingedrungenen Feinden trainieren lassen - und jetzt ist der Speisesaal voller vermeintlicher Feinde, ganz ohne Waffen und diktiert ihm Fragen. Weil er von nichts weiß, sich beharrlich an seine Schweigeverpflichtung hält, sind einige Besucher sehr aufgebracht. Die Situation droht tätlich zu eskalieren. Karlheinz Reimann ist bemüht, die aggressive Stimmung zu beruhigen und weist mit Nachdruck auf den friedlichen Charakter der Bürger-Aktion hin. Er schätzt ein, dass mit großer Wahrscheinlichkeit alle Teile des Bunkers begangen werden konnten. Peter Kratzer nennt ihn im Januar 1990 bei einer erneuten Begegnung auf dem Kaßberg "seinen Retter von der Dittersdorfer Höhe“. Karlheinz Reimann musste klarstellen, „nicht um Rettung, sondern um Auflösung des MfS ist es uns damals gegangen“.
1990 diente der Bunker zunächst zur gesicherten Einlagerung von Stasi-Akten. Danach ist der Bunker dem Vandalismus anheimgefallen. Noch später konnte das Objekt privatisiert werden. Die Scheibners bringen von einer Rundreise durch Kanada die Geschäftsidee eines „Waldcamping Erzgebirge“ mit und realisieren diese mit unermüdlicher Anstrengung. „Camping Canada, unter diesem Motto haben wir unseren Campingplatz gestaltet, mit großzügigen Parzellen, viel Raum dazwischen und einer naturnahen Anlage. Unsere familiär geführte Anlage ist vor allem für Ruhe und Erholung Suchende und Familien mit kleinen Kindern eine perfekte Adresse. Auf zwei Hektar werden Touristenplätze, eine große sonnige Zelt- und Liegewiese, tolle Ferienwohnungen sowie einfache und komfortable Campinghütten angeboten. Minimarkt, Brötchenservice, Info-Ecke und Clubraum gehören dazu. Die Küche ist komplett ausgestattet mit allem Geschirr, Besteck, Töpfen und Elektrogeräten wie zu Hause“, schwärmt Antje Scheibner. Kinder toben in einer Hüpfburg, als ich hier bin. Nichts erinnert mehr an die belastende Vergangenheit des geheimen Objektes.
An der Rezeption des "Waldcamping Erzgebirge". (Bild: Karlheinz Reimann, mit freundlicher Genehmigung von Antje Scheibner)
Der Bunker ist heute vollkommen unzugänglich. Eine kleine Ecke eines Zugangs wird von den Scheibners noch als kühler Keller genutzt. Nichts erinnert mehr daran, dass das Gelände in der DDR-Zeit ein geheimer Ort war, an dem politische Führungskräfte des SED-Regimes in Karl-Marx-Stadt Schutz suchen wollten, wenn auf dem Kaßberg von Chemnitz Granaten einschlagen.
Ein weitgehend baugleicher Bunker, die Ausweichführungsstelle der Stasi Leipzig, befindet sich bei Machern im Naherholungsgebiet Lübschützer Teiche. Durch das Bürgerkomitee Leipzig e.V. wurde dieser Bunker als Museum und Gedenkstätte so weit möglich im Originalzustand erhalten und kann seit 1996 zu den Öffnungszeiten besichtigt werden.