von Karlheinz Reimann,

geschrieben im Januar 2014

Im September 1966 wurde in Moskau auf der Ausstellung „interorgtechnika" von Robotron die erste moderne EDVA im RGW-Bereich, ein Konstruktionsmuster des Systems R300, mit einer großen Palette peripherer Geräte zum ersten Mal gezeigt. Auch zum großem Erstaunen von Spezialisten anderer Firmen der BRD und aus dem westlichen Ausland trotz  der bestehenden Embargobedingungen. R300 war ein volltransistorisierter Rechner der zweiten Generation nach IBM/1400-Architektur mit ausgereifter Gefäßkonstruktion, gewickelter Rückverdrahtung (wire-wrap), Flachkabelverbindungen und vergoldeten Steckkontakten. Der Rechner war robust und zuverlässig, er lief, lief und lief ... mancherorts noch bis 1990. Er war in der Rechentechnik der DDR das, was anderenorts im Autosektor der VW Käfer war. „Bis 1970 wurden 351 Anlagen für Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung der DDR produziert", weiß Rolf Kutschbach, der damals federführend an Marktanalyse und Konzeption des Systems gearbeitet hat, aus dem Stegreif. R300 war eine große Gemeinschaftsleistung, an der weit über einhundert Ingenieure, Mathematiker, Konstrukteure und Mitarbeiter im Musterbau, darunter auch viele Frauen (wodurch sie auch erhöhte Rentenanrechte erworben haben), in verschiedenen Betrieben beteiligt waren, mit der die Rechentechnik und elektronische Datenverarbeitung in der DDR auf ein völlig neues Niveau gehoben wurden. Dieses komplexe System war aber auch eine große Herausforderung hinsichtlich der Überleitung der Entwicklung in die Produktion in neu errichteten Fertigungsstätten mit neu eingestelltem Personal, vor allem in Dresden. Bei Robotron in Karl-Marx-Stadt war Günter Bezold einer der führenden Organisatoren für diese nicht selten komplizierten Prozesse.

Günter Bezold erläutert dem DDR-Regierungschef Walter Ulbricht in Moskau die EDVA R300. Hier der   Schnelldrucker, an dem ich als Absolvent zwei Jahre lang mitgearbeitet hatte und auf der INTERORGTECHNIKA 1966 vorstellen durfte.                       (Bild: Karlheinz Reimann)


Günter Bezold war kein Erfinder, wenn man sich darunter einen Tüftler mit einer Vielzahl von Patentanmeldungen vorstellt. Er war vor allem ein Prozessorganisator, der Erfindungen und Erfindern zum Durchbruch verhelfen konnte. Er verfügte über ein breit gefächertes Wissen, einen analytischen Verstand und die Fähigkeit, in kurzer Zeit die Situation eines komplexen Entwicklungsablaufes zu überschauen. Er suchte Probleme stets durch eine konstruktive Herangehensweise zu lösen, und er hatte ein psychologisches Gespür, welcher Mitarbeiter nach seinen Fähigkeiten und seinem Persönlichkeitstyp an welcher Stelle effektiv eingesetzt werden konnte. Aber er konnte auch grantig werden, wenn er auf fundamentale Unfähigkeit oder Unwilligkeit stieß oder wenn aufopferungsvolle Arbeit der kreativen Köpfe ausgebremst wurde durch Dienst nach Vorschrift und Selbstherrlichkeit in den Querschnittsabteilungen – den Dienstleistern im Entwicklungsprozess! Kurzum: Er war ein Manager der älteren Schule, an denen es im sozialistischen Betrieb vielerorts mangelte. Auf seine Hinweise und Vorschläge haben sich in fast 30 Jahren mehrere Betriebsdirektoren gestützt und nicht wenige seiner Ratschläge als ihre Entscheidungen umgesetzt. Robotron hat Günter Bezold bei vielen Entwicklungsabläufen und Überleitungen in die Produktion die Sicherung und Optimierung der organisatorischen Abläufe zu verdanken. Auch hier half ihm sein psychologisches Gespür, mit geeigneten Partnern gute Kontakte zu pflegen und zielführende Entscheidungen zu befördern.

Günter Bezold hat sich dabei stets aus fachlicher Sicht profiliert, sich parteipolitisch zu profilieren war seine Sache nicht. Er wusste sehr genau um die Schwachstellen sozialistischer Planwirtschaft, um vergeudetes Arbeitsvermögen, wenn Leitungspositionen nicht nach fachlicher und personeller Eignung, sondern nach Engagement im Sinne der Partei besetzt wurden, wenn hoch ausgebildete Mitarbeiter stundenlang in zentralen und dezentralen Wettbewerbskommissionen gesessen haben oder wochenlang an der Gestaltung von Brigadetagebüchern gearbeitet wurde. Mehr hätte uns ein viel beschworener "Klassenfeind" an unserem Vorwärtskommen wohl auch nicht hindern können. So wurde unser Abstand zur Weltspitze trotz „immateriellen Importes“ (besonders von IBM) mit jedem Jahr ein Stück größer. All das hat er im öffentlichen Raum schweigend hingenommen und eigene Westkontakte strikt vermieden, um sich nicht angreifbar zu machen. Aber es hat ihn, dem für sein engagiertes Wirken zum Wohle des Unternehmens ehrliche Anerkennung gebührt hätte, nicht vor Verleumdungen und in deren Folge Nachstellungen der Staatssicherheit bewahrt, an denen auch Kollegen aus seinem betrieblichen Umfeld tatkräftig mitgewirkt haben. Besonders hervorgetan hat sich dabei der IME „Helmut“, sein Zimmerkollege Rainer B. Es erfordert eine gewisse kriminelle Energie, wenn Wohnungsschlüssel des Zimmerkollegen in Seife abgedrückt und an das MfS übergeben werden, um damit die konspirative Durchsuchung von Wohnung und Bungalow zu unterstützen, oder wenn als „operative Kombination“ (im Volksmund aufgestellte Falle) geheime Unterlagen leicht zugänglich mit ausschließlich dafür installierter Videoüberwachung abgelegt werden, um das „Informationsinteresse des Verdächtigen“ zu prüfen mit dem Ziel, ihn gemäß StGB (Strafgesetzbuch) der DDR nach §97 Spionage und §104 Sabotage zu inhaftieren. Auch ist aus seinen mehr als 1000 Seiten Akten zu entnehmen, dass Günter Bezold mit der Registriernummer 1000/68 auf der geheimen Liste von Personen erfasst war, die im Spannungsfall innerhalb von 24 oder 48 Stunden in ein Isolierlager (wahrscheinlich „Gitter1“ Augustusburg, vorgesehenes Isolierlager für ca. 5000 Personen) gebracht werden sollte. In der Direktive des MfS  Nr. 1/67 - eine der geheimsten Unterlagen der DDR - ausgezeichnet als "Geheime Kommandosache (persönlich)" (der Auszeichnungsstempel ist offensichtlich aus dem Nazi-Nachlass übernommen worden), war bis ins Kleinste und in den zugehörigen Formblättern auch namentlich aufgeführt, welche Personen zur Festnahme, Internierung, Isolierung oder Überwachung vorgesehen sind. Auch heute noch läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken, wenn man bedenkt, was das für die friedlichen Demonstranten des Jahres 1989 bedeutet hätte. Manch naiver Glaube an "die DDR als Hort des Humanismus" (Host Sindermann) wäre hier der Ernüchterung gewichen. Glücklicherweise haben sich die Ereignisse im Herbst 1989 so überschlagen, dass die dafür vorgesehenen Personen unbehelligt geblieben und die Namenlisten durch die Stasi vernichtet worden sind.

Die Überwachung des im "Dienst für einen feindlichen Geheimdienst Verdächtigen" war allumfassend. Ein Bankgeheimnis gab es nicht, die Leitung der Sparkasse Karl-Marx-Stadt hat auftragsgemäß Kontostand und Kontobewegungen der Bezolds an das MfS übermittelt. Es gab Zeiten, in denen gemäß Operativem Vorgang Legalist (OVL) "Belz" jede Bewegung „des Verdächtigen“ minutiös beschattet wurde: Um 06:27 Uhr auf dem Weg von der Wohnung zum Haus Robotron, in der Mittagspause um 13:20 Uhr auf dem Markt beim Kauf einer Rolle Pfefferminz im Foto-Geschäft Kratzsch oder der „Belz“ um 21:35 Uhr beim Gießen seiner Balkonpflanzen gesehen wurde. Das MfS hat ihn auf Dienstreise begleitet von seiner Haustür nach Jena, dort auch minutiös den Besuch seiner Mutter registriert, war um 12:45 Uhr beim Mittagessen in der „Mühltalperle“ dabei und hat ihn mit vielen Fotos zurück verfolgt bis wieder an seine Haustür. Das alles ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Die Paranoia des Genossen Ministers Erich Mielke hatte in der DDR Auswirkungen bis auf den einzelnen unbescholtenen Bürger.

Im Zuge unseres mehrjährigen Zusammenwirkens zur Aufklärung des Stasi-Komplexes bei Robotron hat Günter Bezold mir einen Teil seiner persönlichen Unterlagen als Kopie, nicht zur vertraulichen, aber zur verantwortungsbewussten Verwendung überlassen. Ich habe das von ihm als Anerkennung und Vertrauensbeweis mit Dankbarkeit erlebt. Unter „verantwortungsbewusst“ verstehe ich, dieses Zeitdokument gegen Bagatellisierung, Vergessen oder bewusstes Verdrängen zu bewahren und für Nachgeborene nachlesbar zu machen, wie man damals als Unbescholtener zum Verdächtigen gemacht werden konnte. Nachdem Günter Bezold am 20. Mai 2012 in Bautzen gestorben ist, habe ich diese Unterlagen aufgearbeitet an seine Familie zurückgegeben. Auch bei mancher berechtigten Kritik an  Unzulänglichkeiten von Politik und Wirtschaft in der Demokratie heute, dringende Probleme unserer Gesellschaft nachhaltig zu lösen, ist diese Erinnerung wichtig zur Orientierung der Nachgeborenen bei der Gestaltung einer besseren Zukunft. Niemals wieder darf der Staat so viel Macht über den Bürger erlangen und der Bürger so viel Ohnmacht gegenüber dem Staat ausgesetzt sein, dass der unbescholtene Bürger einem derartigen Verfolgungswahn unterliegt. Unser Leben ist heute um so vieles freier und reicher geworden. Einsperrung, Entmündigung und dogmatische Umerziehung des Einzelnen durch den vormundschaftlichen Staat im Sozialismus stalinistischer Prägung haben durch das mutige, intelligente und gewaltlose Aufbegehren des Volkes im Herbst 1989 ein Ende gefunden. Man hätte Karl Marx beherzigen sollen: „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift!“ Und Freiheit ist eine starke Idee.