Anlässlich 30 Jahre Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 2019
Es war ein langer Weg zu einem einheitlichen Deutschland Bismarcks. Auch nach der Teilung Deutschlands als Folge des verbrecherischen Zweiten Weltkrieges, über den Bau der Mauer 1961 in Berlin bis zum Fall dieser Mauer am 9. November 1989. Die Wiedervereinigung Deutschlands - nicht unumstritten - war ein Glücksfall der Geschichte. Die Einheit Deutschlands ist auf gutem Weg, auch wenn sie noch nicht vollendet ist und noch Zeit, Unvoreingenommenheit und Optimismus der nachgeborenen Generation braucht.
Gerd Mucke, Pfarrer in Rötha, blickt in einer interessanten Geschichtsstunde für eine Rundfunksendung am 3. Oktober 1997 auf Ereignisse dieser langen Zeit zurück. Sein „Wort zum Feiertag der Deutschen Einheit", prägnant und charmant formuliert, hat zeitlosen Erinnerungswert. Weil Zukunft verantwortungsbewusst zu gestalten auch Erinnerung braucht.
Ich danke ihm herzlich für die freundliche Erlaubnis, dass ich seinen Beitrag in die "Chemnitzer Geschichten" aufnehmen darf. Er hatte mir sein Manuskript bereits 1997 zugesandt. Es hier zu bewahren, ist auch eine Hommage für die evangelische Kirche, die im Herbst 1989 ermutigten Bürgern ein schützendes Dach für Versammlungen geboten und die Menschen bestärkt hat im Geist von Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit, wodurch die zahllosen Waffen des SED-Regimes nutzlos geworden waren. Die Führungskräfte von Partei und Sicherheitsorganen der DDR hatten an alles gedacht, waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Gewaltlosigkeit, Kerzen und Gebete.
Karlheinz Reimann
Dass Deutschland eins werde ...
geschrieben von Gerd Mucke, Pfarrer in Rötha,
für eine Rundfuksendung zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1997
Er hatte es schon schwer, der Minister und Geheime Rat Johann Wolfgang von Goethe. Wenn er per Postkutsche von Weimar aus unterwegs war, musste er an jeder innerdeutschen Grenze sein Gepäck durchwühlen lassen, ohne dass ihn ein Diplomatenpass geschützt hätte. Und es gab damals viele innerdeutsche Grenzen. Jedes Fürsten- oder Herzogtum, jedes Königreich hatte eine eigene Währung und eigene Gesetze, und natürlich auch Zollverordnungen. So war es vor allem als Stoßseufzer und Wunschtraum zu verstehen, als Goethe schrieb: „Mir ist nicht bange, dass Deutschland nicht eins werde... Vor allem sei es eins in Liebe untereinander. Und immer sei es eins, dass der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Wert habe, eins, dass mein Reisekoffer durch alle deutschen Länder ungeöffnet passieren könne."
Zu DDR-Zeiten hing der Spruch in fast jedem Pfarrhaus. Er war so herrlich konspirativ. Die Vertreter vom Rat des Kreises, die mitunter das „vertrauensvolle Gespräch" im Pfarrhaus suchten, guckten zwar stets etwas schief - in ihrem Vokabular war die deutsche Einheit nicht vorgesehen - aber sie konnten nichts machen. Deutscher Klassiker.
Von der Überwindung kleinstaatlicher Enge und Borniertheit träumte auch ein Hoffmann von Fallersleben, als er „Deutschland, Deutschland über alles" stellte, den Gedanken der inneren Einheit über alles kleinkarierte Denken und alle Zwergstaateninteressen. „Brüderlich" sollte Deutschland zusammenhalten über die vielen kleinen und größeren Schlagbäume hinweg.
Nach der missglückten Revolution von 1848 verabschiedete die Nationalversammlung immerhin eine demokratische Verfassung. Der neuernannte Ministerpräsident Otto von Bismarck arbeitete nun auf eine Vollendung der deutschen Einheit hin. In der patriotischen Begeisterung nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 schlossen sich die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen Reich zusammen. Kaiser wurde natürlich der preußische König Wilhelm I., der zunächst gar nicht so recht wollte. Er regierte – sozusagen „unter Bismarck" – bis zu seinem Tode im Jahr 1888. Nach einem kurzen Intermezzo des todkranken Friedrich kam noch im gleichen Jahr Wilhelm II. an die Macht, der erst einmal seien „eisernen Kanzler" entließ, um selbst regieren zu können. "Der Lotse geht von Bord", hieß es damals in einer berühmten Karikatur.
Wilhelm II. versuchte sich in der „Weltpolitik", obwohl ihm die Kenntnisse dazu fehlten. Bald schon kam Deutschland mit anderen europäischen Staaten in schwere Interessenskonflikte, die im Ersten Weltkrieg gipfelten. Mit Hurra und Sieg wie anno 71 war es diesmal nichts. Statt dessen Stellungskrieg mit sinnlosen Materialschlachten und ungeheuren Verlusten auf beiden Seiten. Vom Kaiser war während des Krieges wenig zu spüren. Militärs wie Hindenburg und Ludendorff hatten das Sagen. Als 1917 schließlich die USA in den Krieg eintraten, war der Krieg entschieden, und mit der militärischen Niederlage Deutschlands ging die politische einher. Der Kaiser floh nach Holland, die übrigen Könige und Fürsten räumten widerstandslos im November 1918 ihre Throne. „Macht euern Dreck allene", soll Friedrich August von Sachsen damals gesagt haben.
Was dann kam, die Weimarer Republik, wurde trotz aller sozialen Fortschritte zu einer „Republik ohne Republikaner", rabiat bekämpft von ihren reaktionären Gegnern und nur halbherzig verteidigt von ihren Anhängern. Alles wurde der Republik zur Last gelegt: Die Not der Nachkriegszeit, die drückenden Auflagen des Friedensvertrages von Versailles. 1923 marschierten französische Truppen ins Ruhrgebiet ein, weil Deutschland mit den Kriegsentschädigungsleistungen in Verzug gekommen war. Die deutsche Währung verfiel galoppierend. Schließlich kursierten Geldscheine mit Milliarden- und Billionen-Nennwerten, für die es keinen Gegenwert gab. In Sachsen und Thüringen kam es zu politischen Unruhen, in München unternahm der rechtsextreme Demagoge Adolf Hitler einen vergeblichen Putschversuch. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 war dann das Schicksal der Republik besiegelt. Linke und rechte Radikale machten sich Arbeitslosigkeit und allgemeine Not zunutze und kochten darauf ihre roten und braunen Propagandasüppchen. Der Ruf nach dem „starken Mann" wurde immer lauter. Nur war es noch unklar, ob der Thälmann oder Hitler heißen würde. Die Nazis hatten die besseren Demagogen, und so wurde sie 1932 stärkste Partei. 1933 ernannte ein seniler Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, und damit war der weitere Weg Deutschlands in die Katastrophe vorprogrammiert.
Hitlers bedenkenlose und gewaltsame Innen- und Außenpolitik führten über ein „Großdeutschland" direkt in den nächsten Krieg. Am Ende blieben ungeheure Trümmerfelder, über 50 Millionen Tote, darunter 6 Millionen ermordeter Juden, und die Gewissenslast der Kriegsschuld. Millionen Deutsche waren in Gefangenschaft, Millionen obdachlos. Das schien das Ende der Nation zu sein. Die Siegermächte saßen zu Gericht. Die Mörder von Hiroshima klagten die Mörder von Auschwitz an. Schließlich wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Es verlor Ostpreußen, Schlesien und Teile von Pommern und Brandenburg. Mehr als fünf Millionen Deutsche, die noch dort zurückgeblieben waren, wurden nun vertrieben. Ebenso mehr als 3 Millionen Sudetendeutsche, die in der Tschechoslowakei lebten. Dazu kamen noch einmal fünf Millionen, die in anderen östlichen Staaten ansässig waren und teils vertrieben, teils verschleppt wurden. Insgesamt waren durch Flucht, Vertreibung und Verschleppung über 15 Millionen Deutsche betroffen. Mindestens 2 Millionen fanden dabei den Tod.
Aber es gab einen Neubeginn. Die folgenden Jahre waren geprägt von Aufbau und wirtschaftlichen Aufschwung, aber auch durch den immer mehr eskalierenden Kalten Krieg zwischen Ost und West. Besonders hart war die Konfrontation in Berlin, der geteilten Stadt. Seit der Gründung von zwei deutschen Staaten im Jahre 1949 war sie „Frontstadt". Tausende und Abertausende „DDR-Bürger" flohen aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen über Westberlin in die Freiheit. Nachdem die DDR dann 1961 ihre Schäfchen eingemauert und diese Absetzbewegung gestoppt hatte, verloren hunderte an dieser Mauer ihr Leben bei dem Versuch, von Deutschland nach Deutschland zu gelangen.
Aber wir hatten einander nicht vergessen in Ost und West. Man schrieb sich, man traf sich in der Tschechoslowakei oder in Ungarn, aus dem Westen kamen Pakete mit allen Köstlichkeiten des Wirtschaftswunders. In die Gegenrichtung wurden Erzgebirgische Räuchermännel und Dresdner Christstollen versandt. Gegen hohen Zwangsumtausch durften Onkel Kurt und Tante Frieda aus Detmold auch schon mal die Verwandten in Dresden besuchen, und die reisemündige Oma wurde zum Gegenbesuch delegiert. Bei der Rückkehr erzählte sie wundersame Dinge von Blumenläden, in denen es nicht nur Grünpflanzen zu kaufen gab, von gefüllten Ladenregalen und von der Qual der Wahl beim Einkauf. Im Sommer kamen bunte Postkarten vom Gardasee oder von Mallorca, während wir den Thüringer Wald durchwanderten oder uns über den FDGB-Ostseeplatz freuten.
Neben diesen Alltäglichkeiten gab es im Osten aber auch das andere: Bevormundung und Einengung, Doppelgeleisigkeit im Denken und Sprechen. Reiseverbot. Das Spitzelnetz der Stasi. Den Armeekult und die Militarisierung der Gesellschaft vom Kindergarten an. Die verlogenen Jubelmeldungen der Presse. Dümmliche Parolen zum 1.Mai. Den Mangel an fast allem außer den Grundnahrungsmitteln. Die Privilegien der roten Häuptlinge. Den vertuschten wirtschaftlichen Zusammenbruch schließlich.
Ende 1989 waren die Zeichen der Zeit günstig. Mancher Ideologe war schon aufgeweicht, und so wurde nicht geschossen, als immer mehr Menschen für demokratische Rechte demonstrierten. Vielleicht hatte die Stasi auch Angst, zu viele eigene Leute unter den Demonstranten zu treffen. Wie 1918 die deutschen Landesfürsten, so räumten 1989 auch die General- und sonstigen Sekretäre kampflos ihre Throne. Die meisten von ihnen haben sich schnell mit dem Klassenfeind arrangiert. Goethes Wunschtraum war endlich Wahrheit geworden, auch wenn es mit dem „eins in Liebe untereinander" noch nicht überall so recht klappt und wenn der „deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reich" manchmal zweierlei Wert hat.
Freiheit ist nicht alles – das haben viele in den letzten Jahren zu spüren bekommen. Aber ohne Freiheit ist alles nichts. Diese Erinnerung aus DDR-Zeiten sollte nicht untergehen in allem „Ostalgie"-Rummel. Natürlich war es im Kuhstall wärmer als auf der freien Wiese, dafür aber auch enger, dunkler und muffiger. Wir mussten den aufrechten Gang und das freie Atmen erst wieder lernen. Und wir mussten das jahrzehntelange eingeimpfte Misstrauen gegen alles, was nicht aus dem eigenen Kuhstall kam, ablegen. „Da drüben" wohnen Menschen wie wir – das war für manchen in Ost und West eine neue Erkenntnis. Die im Osten konnten schon mit Messer und Gabel essen, und die im Westen waren keine abgehobenen Übermenschen.
Den Christen in Ost und West war das schon länger bekannt. Was wären wir zu DDR-Zeiten ohne unsere „Patengemeinden" gewesen? Sie haben uns Zusammengehörigkeitsgefühl geschenkt und Glaubensmut, aber auch Nescafe fürs Gemeindefest und Kupfernägel fürs Kirchendach. Das eine war so wichtig wie das andere. Aus „Paten"- sind längst „Partner"-gemeinden geworden, gleichermaßen betroffen von den Problemen in Gesellschaft und Kirche, Vorreiter in Sachen Verständnis und Vorurteilslosigkeit. Ein Bibelwort für diesen Tag steht im Römerbrief (14,19): „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Auferbauung untereinander." So einfach ist das. Ein gutes Wort für den Tag der Deutschen Einheit.