Wendezeit07

von Karlheinz Reimann,

geschrieben zum 3. Oktober 2015

Es gibt Tage, die in unvergesslicher Erinnerung bleiben, weil sie die Welt, aber auch die Biografie vieler Menschen entscheidend verändert haben. Ein solcher Tag ist für die Deutschen der 9. November 1989, an dem in einer strapaziösen und wunderbaren Zeit der Friedlichen Revolution in der DDR die seit 28 Jahren bestehende Mauer  nach der folgenschweren Verlautbarung von Politbüromitglied Günter Schabowski „Nach meiner Kenntnis … gilt das sofort, unverzüglich“ in Berlin  an der Bornholmer Straße von Demonstranten friedlich erstürmt wurde. Mit Freudentränen und Sektflaschen lagen sich Ost- und Westberliner in den Armen. Viele Millionen  Fernsehzuschauer in der Welt verfolgten ergriffen und ungläubig die Ereignisse in Berlin. "Wahnsinn" war das meist gebrauchte Wort dieser Nacht. An diesem Abend begann auch für die in der DDR eingesperrten Menschen  die unbeschränkte Reisefreiheit. Die weitere Entwicklung führte zur Wiedervereinigung des über 40 Jahre geteilten Deutschlands am 3. Oktober 1990. Für die inzwischen herangewachsene Generation sind Freiheit und Lebensbedingungen im Deutschland von heute ganz selbstverständlich. Für sie ist schwer vorstellbar, wie damals im östlichen Teil der Zustand des Landes  war und welchen Einschränkungen die Menschen dort ausgesetzt waren. Tatsächlich war das aber überhaupt nicht selbstverständlich, sondern ein Glücksfall der Geschichte. Manches stand bis zur Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12. September 1990 in Moskau auf Messers Schneide. Ohne die Zustimmung der Siegermacht Sowjetunion durch Michail Gorbatschow und das Drängen von George Bush senior, dass auch Margaret Thatcher und Francois Mitterrand zustimmen mögen, wäre die Wiedervereinigung nicht zustande gekommen. Dabei gab es bedingt durch die Verhältnisse in der Sowjetunion für die Wiedervereinigung Deutschlands nur ein begrenztes Zeitfenster.

Die ersten freien und demokratischen Wahlen in der DDR fanden am 18. März 1990 statt. Aufgrund der sich überschlagenden Ereignisse nach dem Fall der Mauer und der dringenden Notwendigkeit zur Herstellung einer legitimierten Regierung sind damals die Wahlen zur Volkskammer in der DDR um sechs Wochen vorverlegt worden. Im Ergebnis hatten sich 83,6% der Wähler für die Abwahl der SED – inzwischen umbenannt PDS - entschieden. Das Eingemauertsein der eigenen Bürger mit Schießbefehl und Inhaftierung sollte niemals mehr zurückkehren. Es begann eine Zeit dramatischer Ereignisse, die das Land und das Leben vieler Menschen tiefgreifend verändert haben.

Bundeskanzler Helmut Kohl, der am 7. Februar 1990 eine Wirtschafts- und Währungsunion der BRD mit der DDR in Aussicht gestellt hatte, stand unter hohem Druck, dieses Versprechen einzulösen. „Kommt die D-Mark, bleiben wir - kommt sie nicht, dann gehen wir zu ihr“, lautete ein viel zitierter Slogan von Volkes Stimme auf DDR-Straßen. Was das für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze bedeutete, war zu dieser Zeit vielen nicht klar. Die Absatzmärkte der DDR-Betriebe in den Ländern des RGW brachen mit Einführung der DM ab 1. Juli 1990  weg, weil diese Abnehmer nicht in DM zahlen konnten oder wollten. Mit den ausgezehrten Betrieben der DDR, in zu vielen Beschäftigten versteckter Arbeitslosigkeit und 40% Produktivität im Vergleich zum Westen hatten die DDR-Betriebe nahezu keine Chance auf dem westlichen Markt. Der für die DDR-Bevölkerung großzügige Umtauschsatz ihrer Sparguthaben (Erwachsene bis 4.000 M-DDR, ab 60 Jahre 6.000 M-DDR, Kinder bis 14 Jahre 2.000 M-DDR pro Person 1:1, darüber 2:1) war eine politische Entscheidung Helmut Kohls, die in Wirtschafts- und Finanzkreisen der BRD auch viel Kritik fand – Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl nahm seinen Hut. Aber auch die Bevölkerung in der BRD sah dies teilweise skeptisch, hatte sie doch zur Währungsreform 1948 auch mit nur 40 DM angefangen, war hier und da zu hören.

Ab Jahresmitte 1990 saß der Zahlmeister für das Leben in der DDR in Bonn. Schlagartig endete  die chronische Mangelwirtschaft der DDR. In den Geschäften gab es plötzlich volle Regale. Gekauft wurden vorwiegend Westprodukte  und dadurch DDR-Produkte verdrängt, was die wirtschaftliche Lage der DDR-Produzenten verschärfte. Gleichzeitig schlug die Stunde der Treuhand. "Schnell privatisieren - entschlossen sanieren - behutsam stilllegen" hieß die erklärte Zielstellung. Detlev Karsten Rohwedder hatte noch Hemmungen, viele Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Nach seiner Ermordung hat Birgit Breuel dies mit kaltem Herzen und  eiserner Hand durchgezogen und 1994 mit einem Defizit von 230 Milliarden DM zu Lasten der überwiegend westdeutschen Steuerzahler anstelle eines erwarteten Erlöses von 600 Milliarden DM aus der Privatisierung der DDR-Betriebe abgeschlossen. Zunächst wurden 25.000 Handelsgeschäfte, Gaststätten und Hotels verkauft. Bis Ende 1994 wurden 12.162 Betriebe privatisiert (53,8%), stilllgelegt (30,6%), an Alteigentümer zurückgegeben (13,1%) oder in kommunale Trägerschaft überführt (2,6%). Die Bundesregierung beschloss 1993 ein Förderprogramm zur "Sicherung industrieller Kerne" als unverzichtbare Arbeitgeber der Region (Ostsee-Werften, EKO-Stahl in Brandenburg, SKET Schwermaschinen- und Anlagenbau in Magdeburg, Maschinenbaufirmen in Sachsen). Für besonders schwierige Fälle der Privatisierung (wie Teile der Buna, der Sächsischen Olefinwerke oder Leuna-Polyolefine)  wurden  teilweise bis zu 1,8 Millionen DM als staatliche Beihilfen pro  Arbeitsplatz investiert - ein immenser finanzieller Aufwand. Letztlich war das Ergebnis der Treuhand besser als ihr Ruf durch die mit ihrer Tätigkeit entstandene Arbeitslosigkeit. Die Zahlenangaben hier stammen von Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz (1).

Die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland stieg  von offiziell null  auf 1 Million 1991 und erreichte 2003 über 20%. Sie lag auch später dauerhaft in den neuen Bundesländern - obwohl hier so unendlich viel zu tun war  - etwa doppelt so hoch wie in Westdeutschland. Die Kali-Kumpel von Bischofferode erregten mit ihrem Hungerstreik für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze weltweit Aufsehen - und haben am Ende doch verloren. Vorbei an der Politik hat sich die westdeutsche Wirtschaft auch vor Scharmützeln zur Konkurrenzbereinigung nicht gescheut. Für viele, die ihre Arbeit verloren hatten, waren das sehr schwierige Jahre und eine herbe Enttäuschung. Hatte doch Helmut Kohl auch versprochen, vielen werde es besser gehen und niemandem schlechter als vorher. Auch in Chemnitz erreichte die Arbeitslosigkeit Rekordhöhen.  Dabei war die Stadt,  deren Zentrum 1945 zu 95% durch Bomben zerstört worden ist,  wieder zu einem Schwerpunkt des Werkzeug- und Textilmaschinenbaus sowie des Fahrzeugbaus der DDR mit entsprechend vielen Beschäftigten geworden. Im Oktober 2015 hat Chemnitz eine Gesamtarbeitslosenquote von 8,5% (Ostdeutschland 8,6%, Westdeutschland 5,5%). Der gewaltige Transformationsprozess einer staatlichen Planwirtschaft in eine private Marktwirtschaft wurde hinsichtlich des notwendigen Finanztransfers und der erforderlichen Zeit erheblich unterschätzt. Chemnitz hat seit 1989 fast 60.000 seiner Einwohner durch Wegzug hin zur Arbeit in die westlichen Bundesländer verloren, darunter viele junge und gut ausgebildete Menschen. Erst seit kurzem hat die Stadt einen geringen Zuwachs durch Rückzüge zu verzeichnen.

Neben Arbeitslosenunterstützung und Frühverrentung waren nun auch Investitionen in die vernachlässigte Infrastruktur der DDR, Gas-, Strom- und Telefonnetze, Autobahnen und Straßen, die Entgiftung von Flüssen und Uranhalden, die Sanierung von Krankenhäusern, Altersheimen, Schulen und vieles mehr zu finanzieren. Das sehr umfangreiche Wohnungsbauprogramm der DDR setzte ausschließlich auf industrielle Großplattenbauweise. Die Altbausubstanz, soweit sie nach den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg noch erhalten war und den historisch gewachsenen Charakter vieler Städte verkörperte, war mit ihren Dächern und Fassaden  vielerorts über Jahrzehnte dem Verfall preisgegeben worden. Altbauviertel in historischen Städten, die heute wieder zu einem Kleinod geworden sind, glichen am Ende der DDR teilweise einer Ruinenlandschaft am Ende des Krieges, wie der MDR  2015 in einer Serie  mit eindrucksvollen Bildern in Erinnerung gebracht hat. Die deutsche Wiedervereinigung hat die Westdeutschen sehr viel Geld gekostet. Aber sie bekamen von den Ostdeutschen als Gegenleistung zunächst den Wegfall von Bedrohungsszenarien geschenkt - wie die Eroberung von West-Berlin, die von den „bewaffneten Organen“ der DDR noch bis zum Sommer 1989 in einem jährlichen Manöver geübt worden ist. Hunderte Tonnen von Munition der NVA hat  Pfarrer Rainer Eppelmann als Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR unschädlich machen lassen, ohne dass eine einzige Granate in der BRD Zerstörungen angerichtet hat. Auch das wäre ohne den Mut der Menschen in der DDR nicht zustande gekommen. Es war eine gute Zeit, als Wladimir Putin später im deutschen Bundestag verkündete : „Der kalte Krieg ist vorbei“.                  

25 Jahre wiedervereinigtes Deutschland sind guter Grund für eine Rückbesinnung an die Zeit im Herbst 1989, in der viele DDR-Bürger ihren Mut zum aufrechten Gang wieder entdeckt und sich angeschickt haben,  ihre Zukunft selbst mitzugestalten. Unsere Gesellschaft ist heute wesentlich differenzierter geworden, die Schere zwischen arm und reich ist weiter geöffnet. Möglichkeiten für hohen Aufstieg, aber auch steilen Absturz liegen nicht selten dicht beieinander. Diese Kontraste haben   die sozialistische  Gleichmacherei in der DDR ersetzt, die im Herbst 1989 ganz wesentlich zu einem effektiven Zusammenwirken der Demonstranten beigetragen hat. Diese staatlich gelenkte  Gleichmacherei mit relativ geringer Differenzierung der Einkommen, wo der Schweißer im Reichsbahnausbesserungswerk Karl-Marx-Stadt im Leistungslohn genau so viel Geld in der Lohntüte hatte wie sein Werkleiter, wo jeder - ohne "Beziehungen" - die gleiche Wartezeit auf acht Quadratmeter Fliesen, einen Satz Winterreifen,  einen Ferienplatz an der Ostsee oder die jahrelange Autobestellung zu ertragen hatte, den Einschränkungen von bürgerlichen Freiheiten, Reisefreiheit und Rechten gegenüber dem Staat ausgesetzt war, hat  ein tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit der Menschen in den Kirchenversammlungen und Demonstrationen bewirkt, immer breitere Bevölkerungskreise erfasst und eine Eigendynamik entwickelt, aus der letztlich ab November 1989 das SED-Regime zusammengebrochen ist. Dabei wird es  immer eine Illusion sein, dass eine derart dramatische und tiefgreifende Umgestaltung nicht für jeden Betroffenen ohne Blessuren und Schrammen abgehen kann.

Heute verfügt Chemnitz wieder über ein gut aufgestelltes Handwerk und viele moderne auf Wachstumskurs befindliche klein- und mittelständige Unternehmen. Bei VW Sachsen in Chemnitz werden in einem der weltweit modernsten Werke täglich 3.000 Fahrzeugmotoren produziert. Auch mehrere Tochterfirmen von Großunternehmen sind heute in Chemnitz zu finden, aber einen Hauptsitz dieser Unternehmen sucht man in Chemnitz vergebens. Seinen Ruf als "Sächsisches Manchester" mit vielen weltweit bekannten Unternehmen oder als Autostadt, in der  mit Gründung der Auto-Union 1932 auch das Logo mit den vier Ringen geboren wurde, hat Chemnitz heute nach der weitgehenden Deindustriealisierung des Ostens  durch die Treuhand und einer immer noch vorhandenen Produktivitätslücke von etwa 30% gegenüber dem Westen bisher nicht wieder erlangen können. Andererseits ist das  "Ruß-Chemnitz"  von einst mit seinen bis zum Kriegsende 800 rauchenden Industrie-Schornsteinen heute sauberer, leiser,  grüner und lebenswerter geworden. Die Universität Chemnitz mit über 11.000 Studentinnen und Studenten verzeichnet auch  eine zunehmende Anzahl von Studierenden aus den alten Bundesländern und dem Ausland wie in diesem Jahr aus China, Indien, Türkei, Italien und Korea. Einkaufen, ob beim Discounter, im Baumarkt oder Autohaus, Angebot und Service dort nehmen die Menschen heute mit Zufriedenheit wahr. Für die große Mehrheit der Bürger ist das Leben freier, weltoffener, farbiger und reicher geworden. Der aufmerksame Beobachter im Alltag trifft nicht selten auf mancherlei Extravaganzen seiner Mitbürger, die Ausdruck von Wohlstand und Freiheit sind. Auch wenn die Einheit in Deutschland – soweit überhaupt real möglich – nach 25 Jahren Wiedervereinigung noch nicht erreicht ist, es noch unterschiedliche Rentenpunkte Ost und West gibt und auch für hochqualifizierte Arbeit im Osten die Löhne niedriger sind, ist die Angleichung der Lebensbedingungen weit voran gekommen. Den meisten Ostdeutschen geht es heute ziemlich gut. Und allemal besser als im Sommer 1989. Sie genießen ihre Reisefreiheit und kehren aus fremden Ländern alle gern wieder nach Hause zurück. Was in der DDR doch nicht  so war – wenn sie denn überhaupt reisen durften.

Hinweise:

(1)  Rödder, Andreas  "Geschichte der deutschen Wiedervereinigung" Verlag C.H.Beck 
                                 München 2011, Seite 98 ff.