von Karlheinz Reimann,

geschrieben im Oktober 2004 für

"Chemnitzer Erinnerungen 1945" Teil III, Die Vororte der Stadt Chemnitz,
herausgegeben von Gabriele Viertel, Uwe Fiedler, Gert Richter
Verlag Heimatland Sachsen Chemnitz 2005
Kleinolbersdorf-Altenhain Seite 106 ff.

Johannes Schlüter aus Chemnitz, damals Flugzeugführer der deutschen Luftwaffe, erzählt seine Erinnerungen an den 14. Februar 1945, als er im Chemnitzer Zeisigwald den ersten Abendangriff beobachtete. Von der zweiten und dritten Angriffswelle an diesem Abend  konnte er vom  Zeisigwald aus nur wenig wahrnehmen, das Geschehen hatte sich mehr zum Erzgebirge hin verlagert.

Urlaub gibt es bei der deutschen Wehrmacht im Februar 1945 nicht mehr. Johannes Schlüter, Jahrgang 1915, ist jetzt in Anklam stationiert. Am 11. Februar fliegt er mit einer viersitzigen Messerschmidt 108 einen Vorgesetzten nach Berlin-Rangsdorf und hat hier etwa 10 Tage Wartezeit. Hier trifft er auch den Schreiber des Generals vom Schlachtgeschwader 1 wieder, den er bereits aus früherer Zeit gut kennt. Ein fingierter Dienstreiseauftrag ermöglicht als Kurier die Reise nach Chemnitz, um während der Wartezeit nach seiner Familie zu schauen. Im dicken Briefumschlag, mit Siegel des Generals versehenen, befindet sich ein „Völkischer Beobachter", der natürlich am Bestimmungsort Karlsbad nicht abgegeben werden darf, den Kurier unterwegs aber bei jeder Kontrolle schützt.

Am späten Abend des 12. Februar kommt Johannes Schlüter mit dem Zug aus Berlin auf einem der oberen Bahnsteige des Hauptbahnhofes Dresden an. Er hat eine Stunde Zeit, um den Zug nach Chemnitz an einem der unteren Bahnsteige zu erreichen, aber dies gelingt ihm nicht. Auf den Bahnsteigen und besonders auf den Treppen zwischen den oberen und unteren Bahnsteigen drängt eine endlose Menschenmenge nach oben, eine andere nach unten. Obwohl er nur eine Aktentasche bei sich hat, ist es ihm unmöglich, auch nur einen Schritt vorwärts zu kommen. Der Bahnhof ist überfüllt mit Flüchtlingen, die meisten kommen aus Schlesien. Der Zug nach Chemnitz fährt ohne ihn ab. Nun versucht er, auf den Gleisen aus dem Bahnhof hinauszulaufen, um nach unten zu gelangen. Beim ersten Versuch weisen ihn Bahnbedienstete zurück, beim zweiten Versuch kann er aufklären, dass er kein Deserteur ist, korrekte Papiere hat, und er erhält Hilfe. Mit einem Güterzug, im Bremserhäuschen eines Waggons, fährt er in der Nacht nach Freiberg, um später in einen Personenzug nach Chemnitz umzusteigen. In den frühen Morgenstunden kommt er endlich in Chemnitz an.

Am 13. Februar ist es in Chemnitz tagsüber ruhig, es gibt keinen Angriff. Am späten Abend gibt es Alarm und sehr viele Flugzeuge überfliegen von Westen kommend die Stadt in Richtung Dresden. Dann sieht man von Chemnitz aus über Dresden den Himmel rot gefärbt. Nun ist klar, wem der Angriff diesmal gegolten hat. Am Vormittag des 14. Februar trifft Johannes Schlüter in Hartmannsdorf Flüchtlinge aus Dresden, die von einem fürchterlichen Angriff und einem unvorstellbaren Feuersturm in der Stadt berichten, dem sehr viele Menschen in ihren Kellern oder dem brennenden Asphalt der Straße zum Opfer gefallen sind. Der 14. Februar ist in Chemnitz ein heller, milder Wintertag ohne Schneedecke, am Abend ziehen Wolken herein. Es gab bereits in den Mittagsstunden einen Fliegeralarm und Bombenabwürfe mit Zerstörungen in Chemnitz. Am Abend nach 20 Uhr wird erneut Fliegeralarm ausgelöst. Johannes Schlüter erinnert sich:

„Ich hörte die Luftlagemeldungen für den Luftschutz im Radio ab und verfolgte den Anflug der feindlichen Verbände auf meiner Karte mit den eingezeichneten Planquadraten. Die Bomber kamen aus dem Raum Frankfurt/Main, flogen etwa entlang des Mains in Richtung Zwickau und Chemnitz. Entweder steht ein weiterer Angriff auf Dresden bevor, oder ihr Ziel heute wird Chemnitz sein. Wir wohnten damals auf der Markusstraße. Hier gab es nur einen sehr kleinen Innenhof, weil sich hinter den Wohnhäusern weitere Gebäude, auch Fabrikgebäude befanden. Wenn hier - wie tags zuvor in Dresden - Brandbomben und Phosphor abgeworfen werden und es zu einem Flächenbrand kommt, gibt es für uns auch aus unbeschädigten Kellern kein Entkommen. Deshalb entschlossen wir uns, mit der vierjährigen Tochter im Kinderwagen in den Zeisigwald zu gehen. Gegen einen Volltreffer hatten wir nirgendwo eine Überlebenschance. Aber das Risiko, im Keller zu ersticken oder zu verbrennen, konnten wir so vermeiden. Wir überquerten die Forststraße und befanden uns zunächst hinter dem Engelmannteich  (heute nicht mehr vorhanden, K.R.). Anfangs war nur das Brummen weniger Flugzeuge zu hören, offensichtlich der Pfadfinderflugzeuge. Am Himmel über der Stadt waren viele Leuchtbomben in verschiedenen Farben, so genannte Christbäume, abgesetzt worden. Es gab am Abend eine Wolkenschicht am Himmel, und zunächst schwebten die Christbäume über den Wolken, waren aber trotzdem von unten zu erkennen. Etwa um 20:50 Uhr sahen wir ein Aufblitzen und hörten eine gewaltige Detonation. Eine erste große Bombe, eine Luftmine, war in der Nähe Peterstraße, Lessingplatz mit einer großen Druckwelle explodiert  (Die "Technologie" der massiven Bombardierung bestand darin, dass zunächst mit  Luftminen möglichst viele Dächer abgedeckt und Kleinholz erzeugt werden sollte. Danach wurden Brandbomben und Tausende Stabbrandbomben abgeworfen, um möglichst viele Brände zu entfachen. Am Ende der Angriffe wurden wieder Sprengbomben abgeworfen, um möglichst große Zerstörungen an der Bausubstanz und der Infrastruktur zu erzeugen. K.R.)  Danach war es eine Zeitlang still, es gab keine weiteren Einschläge. Wir begaben uns weiter in den Zeisigwald hinein. Plötzlich erschienen deutsche Nachtjäger am Himmel, nach dem Geräusch vermutlich Messerschmidt 110. Man konnte sie an ihrem ungleichmäßigen höheren Brummen erkennen, während die Bomber ein tieferes, gleichmäßiges Brummen erzeugten. Außerdem war MG-Feuer zu hören und zu sehen. Es wurde mit deutscher Erkennungssignalmunition geschossen, deren verschiedene Farben täglich gewechselt wurden. Dann war es etwa 10 bis 15 Minuten lang still, nur die deutschen Nachtjäger waren ab und an zu hören. Später hörte man einige Bomber im Anflug. Die Leuchtbomben waren inzwischen weiter abgesunken und befanden sich jetzt unterhalb der Wolkenschicht. Sie waren für die nachfolgenden Bomberpiloten wahrscheinlich nicht mehr zu erkennen. Auch gab es am Boden eine Luftbewegung, die in der Höhe sicherlich stärker ausgeprägt war, wodurch die Leuchtzeichen weiter nach Altchemnitz hin abgetrieben worden sind. Viele Leuchtbomben, die an ihren Fallschirmen eine Brenndauer von etwa 10 Minuten hatten, waren inzwischen verloschen. Die Bomber hatten offensichtlich keine Zielorientierung mehr, weil bis jetzt auch am Boden noch keine größeren Brände entstanden waren. Ich hatte den Eindruck, die folgenden Bomber flogen eher einzeln an, nicht in großen Verbänden. Das ganze Geschehen verlagerte sich mehr zum Erzgebirge hin. Bei uns trat allmählich Ruhe ein, es gab keine weiteren Bombenabwürfe. Gegen 22.00 Uhr wurde Entwarnung gegeben, und wir kehrten zurück in unsere Wohnung. Zu Hause waren bei uns durch die Luftmine sämtliche Fensterscheiben zersplittert, Glassplitter steckten in den Möbeln. Sonst war die Wohnung unbeschädigt geblieben. Von einem späteren Angriff um Mitternacht haben wir in unserem Stadtgebiet nichts bemerkt und geschlafen.„

Anflug feindlicher Bomber

Mit dieser Karte und den Luftlagemeldungen des Rundfunks konnten  Bevölkerung und Luftschutzkräfte den Anflug feindlicher Bomber verfolgen, um sich rechtzeitig in die Luftschutzräume zu begeben.  Herausgegeben von der Städtischen Sparkasse Chemnitz 1944. (Bild: Karlheinz Reimann)

 

Die Beobachtung von Johannes Schlüter, seine „Sicht von unten", bietet Anhaltspunkte, warum vom ersten Abendangriff weniger das Stadtzentrum, dafür umso schlimmer Altchemnitz, Erfenschlag, Einsiedel, Reichenhain und auch Altenhain betroffen waren. Auch beim folgenden Angriff um Mitternacht war dieses Gebiet durch die Brände am Boden für die Bomber als Ziel markiert. Neben der Wolkendecke muss eine starke Höhenströmung aus nordwestlicher Richtung an diesem Abend eine entscheidende Rolle gespielt haben. Augenzeuge Hellmut Schneider berichtet in der „Freien Presse" vom 14. Februar 1995: „Bei beiden Nachtangriffen herrschte starker Sturm, so dass die Leucht- und Signalzeichen weit hinaus ins mittlere Erzgebirge abgetrieben wurden." Das deckt sich mit Beobachtungen aus Altenhain, dass die Christbäume von Chemnitz herangeweht worden sind. So erklärt sich die relative Ruhe in den nördlichen Stadtgebieten von Chemnitz, während zum Erzgebirge hin Höllenlärm und Feuersbrunst getobt haben.

Chemnitz-Sonnenberg 1945. Blick von der Martinstraße zur Hans-Sachs-Straße 1945. Ruinen und Trümmerberge. Trümmerfrauen und Männer beim Beräumen der Straße. Die Markusstraße, von der Hans Schlüter auch berichtet, befindet sich  in unmittelbarer Nähe. (Bild: Stadtarchiv Chemnitz, mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs für die "Chemnitzer Geschichten")


Aus der „Sicht von oben", dem US-Rapport über die „Mission of 14 February, 1945" , verfasst am 15.2.1945, sind „25 – 30 FWs and Me.109s in Chemnitz and Dresden areas" (gemeint sind deutsche Jäger Focke-Wulf Fw 190 und offensichtlich Nachtjäger Messerschmidt Bf 110 – K.R.) aufgeführt. Flak gab es zu dieser Zeit in Chemnitz keine mehr. Lothar Fischer, Jahrgang 1928, damals Flakhelfer in Chemnitz, hat mitgewirkt, die Geschütze am 4./5. Dezember 1944 am Südbahnhof Chemnitz auf die Bahn zu verladen. Sie wurden nun im Westen für die Ardennenoffensive ab Mitte Dezember eingesetzt. Chemnitz war von da an den alliierten Bomberverbänden weitgehend schutzlos ausgeliefert.