von Karlheinz Reimann,

geschrieben im Oktober 2012 zum Vortrag für eine Veranstaltung der BStU Außenstelle Chemnitz, überarbeitet im Februar 2021.


Die Stasi war allgegenwärtig

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR, gegründet im Februar 1950 und streng nach sowjetischem Vorbild organisiert, war einer der erfolgreichsten Geheimdienste für Spionage und Spionageabwehr weltweit. Ein absolutes Glanzstück der DDR-Spionage war, dass über Jahre bis April 1974 mit Günter Guillaume ein Offizier des MfS als Referent, ständiger Begleiter und zur Bearbeitung von Geheimpapieren im Vorzimmer des Bundeskanzlers Willy Brandt  etabliert war. Willy Brandt trat nach diesem Skandal zurück, Helmut Schmidt wurde Bundeskanzler. Die Staatssicherheit war aber auch eine gefürchtete Geheimpolizei, die Menschen selbst verhaften, in eigenen Untersuchungshaftanstalten einsperren und drangsalieren konnte und  deren Wirken sich gegen Ende der DDR überwiegend  gegen das eigene Volk gerichtet hat. So war sie 1989 in der Bevölkerung zum meistgehassten Organ des SED-Regimes geworden. Die Bürgerbewegung in der DDR sah  in der restlosen Entmachtung  und Auflösung der Staatssicherheit die wichtigste Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderungen  im Land, die entgegen  allen Rettungsversuchen unter Ministerpräsident Modrow im März 1990 erzwungen werden konnte. Viele Mitarbeiter des MfS mit ihren Familien waren  bitter enttäuscht, als sie nun von der SED dem Volkszorn preisgegeben wurden und die Partei, in deren Auftrag als ihr "Schild und Schwert" das MfS dienstergeben tätig war, mit ihrer eigenen Verantwortung in den Hintergrund trat. 

 

Im Herbst 1989 verfügte die Staatssicherheit der DDR über 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und ein Heer von 189.000 inoffiziellen Mitarbeitern (IM), von den Bürgern als "Stasi-Spitzel" bezeichnet. In den 40 Jahren ihrer Existenz sind insgesamt 624.000 Bürger der DDR zeitweilig als IM tätig gewesen. Bei 16,4 Millionen Einwohnern der DDR 1989 entsprach das einer mehrfach höheren Überwachungsdichte der Bevölkerung als in der Nazi-Zeit. Aber auch insgesamt 12.000 Bürger der BRD haben im Dienst der Stasi gestanden, von denen im Herbst 1989  noch 1.550   als IM verpflichtet waren (1).  Wie eine bösartige Krebsgeschwulst mit ihren Metastasen hatte die Stasi den gesamten Volkskörper der DDR durchsetzt. In einem vorher nie gekannten Ausmaß gehören Bespitzelung und  Vertrauensbruch unter Kollegen, Freunden, Verwandten und  zuweilen sogar gegenüber dem eigenen Ehepartner  zur Erblast der DDR. Das Wissen über Ausmaß und Methodik der Bespitzelung als Teil der DDR-Geschichte sollte gegen  das Vergessen bewahrt werden, damit sich das in Deutschland niemals wiederholt.

Im Oktober 1975 geriet ich - für mich völlig überraschend - in das Interesse der Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt. Im Folgenden erzähle ich meine persönliche Geschichte über den Versuch, mich  als IMV,  als inoffiziellen Mitarbeiter mit besonderer Vertraulichkeit  anzuwerben. Weil es meine eigene Geschichte ist, kann ich meine Stasi-Akte öffnen, authentisch über die methodische Vorgehensweise der Stasi berichten und über meine Befindlichkeit während dieser Zeit sprechen. In meiner Situation war es noch relativ leicht, NEIN zu sagen. Viele andere haben das auch  getan, aber selten wurde darüber berichtet. Wer in schwerer Bedrängnis war, erpresst wurde oder durch seine Verpflichtung einer Haftstrafe entkommen konnte, war in einer ganz anderen Situation und hatte angesichts der Konsequenzen oft nicht die Kraft  zur Verweigerung. Wieder andere wollten sich  gar nicht verweigern, suchten im chronischen Mangel der DDR Vorteile zu gewinnen. Finanziell waren das meist nur einige Hundert Mark im Jahr, denn das MfS konnte ein solches Heer von Mitarbeitern nicht mit einem zweiten Gehalt ausstatten. Doch verlockend konnte auch die Zusteuerung von Vergünstigungen sein: Im Betrieb eine leitende Stellung mit besserer Bezahlung, die Berechtigung für Reisen ins Ausland, an der Hochschule eine akademische Karriere, im Handwerk eine Gewerbegenehmigung, ein günstiger Grundstückserwerb, eine problemlose Baugenhmigung, eine verkürzte Wartezeit auf das Auto oder endlich ein Telefonanschluss. Im Westen war es ein zusätzliches Einkommen beispielsweise für den Verkauf einer technischen Dokumentation,  das MfS zahlte hier in West-Mark.  Ich habe in meiner Arbeit bei Robotron mit vielen solchen vertraulichen Dokumentationen aus dem Westen zu tun gehabt. 


Eine interessante Arbeit

Ich war seit Herbst 1963 bei Robotron in Karl-Marx-Stadt als Entwicklungsingenieur für Datenverarbeitungsanlagen beschäftigt und  an der Entwicklung der legendären R300, der ersten EDVA mit kompletter Peripherie aus der DDR beteiligt. Im Sommer 1966 präsentierte die DDR erstmals im Ausland die R300 auf der Interorgtechnika in Moskau und ich wurde mit anderen für Aufbau, technische Betreuung und den Rücktransport  dort eingesetzt.  Drei Monate in Moskau zu arbeiten und zu leben erbrachte für meine Sprachkenntnisse in Russisch einen erheblichen Zugewinn. 

Schnelldrucker R300Auf der Ausstellung  "Interorgtechnika" 1966 in Moskau. Karlheinz Reimann (links) und Günter Laskowski (rechts) am Schnelldrucker der EDVA  R300.    (Bild: Karlheinz Reimann)

 

Später entwickelte Robotron seit 1970 gemeinsam mit sowjetischen Spezialisten auf der Basis eines Regierungsabkommens zwischen der UdSSR und der DDR und im Auftrag des Postministeriums der UdSSR einen für diese Zeit sehr leistungsfähigen Telefonvermittlungsrechner für die UdSSR. Die hochzuverlässige Anlage NEWA1M wurde bis 1991 in Dresden produziert und ausschließlich für die UdSSR zum Stückpreis von 1,7 Millionen Valuta-Rubel jeweils eine für die 32 größten Städte der UdSSR geliefert. Nach guten Referenzen in den ersten Städten bestellte der militärische Sektor der UdSSR Mitte der achtziger Jahre weitere 32 Rechner. Ich erwähne das hier nur, um deutlich zu machen, dass diese Aufgabe mit hoher Priorität  auf Regierungsebene vereinbart war. Zur Mitarbeit an einer derartigen Aufgabe war ich zunächst kaderpolitisch nicht geeignet. Ich hatte dem „Ehrendienst in der NVA“ bis dahin ausweichen können, mehrere Werbungen für den Eintritt in die SED abgelehnt, wiederholt den Beitritt zur Kampfgruppe abgewiesen. Meine Schwiegereltern waren 1970 aus Altersgründen von Mannheim zu uns nach Kleinolbersdorf (heute Ortsteil von  Chemnitz) umgezogen. In dem siebzigjährigen Opa sah das MfS einen möglichen „Spion aus dem Operationsgebiet“, also der BRD, weshalb ich als SW-Reisekader, das heißt für Dienstreisen in die Ostblockländer, für drei Jahre gesperrt wurde. Wegen eines Personalausfalls in der DDR-Delegation erhielt ich 1972 notgedrungen die Erlaubnis, einmalig an einer fachlichen Beratung in Moskau teilzunehmen. Nach zwei Wochen konstruktiver Zusammenarbeit mit den russischen Ingenieuren, begünstigt durch meine Russischkenntnisse, fragte der Chef der sowjetischen Seite zum Abschlussprotokoll offiziell  „ob denn beim nächsten Mal der Genosse Reimann wieder mit dabei sein wird“  und der Leiter der DDR-Delegation entgegnete spürbar gezwungen, „ich denke schon“. Von nun an war ich ständiges Mitglied der etwa zwölfköpfigen Spezialistendelegation der DDR. Es wurden meine zehn "russischen Jahre" mit vielen interessanten Eindrücken und Erfahrungen mit dem Land und seinen Menschen, die ich aus meinem Leben nicht missen möchte. Aber 1975 passierte etwas Ungewöhnliches. Seit geraumer Zeit konnte die sowjetische Seite in der gemeinsamen Entwicklung wiederholt ihre Leistungen nicht erbringen und es kam zu erheblichen Planverzügen. Die jahrelange Investition der DDR erschien jetzt möglicherweise als Verlustgeschäft. Das Ministerium für Elektrotechnik/Elektronik der DDR setzte deshalb die Zusammenarbeit mit der UdSSR zumindest zeitweilig aus. Die sowjetischen Spezialisten sollten zur nächsten Beratung in Karl-Marx-Stadt nicht anreisen. Aber sowohl das Ministerium als auch die verantwortlichen Leiter bei Robotron waren äußerst zurückhaltend, diese Entscheidung der DDR der sowjetischen Seite  mitzuteilen. Am Ende wurde ich als Mitarbeiter in der Delegation beauftragt, in Moskau anzurufen und die schlechte Nachricht zu überbringen.



Ein unerwarteter Besuch

In dieser kritischen Situation erhielt ich an einem Oktobertag 1975 Besuch an der Haustür. Ein grauer PKW Wartburg mit zivilem Kennzeichen war 100 Meter entfernt geparkt, wie ich später bemerkte. Ein mir bis dahin unbekannter Herr Walther zeigte mir seinen Ausweis der ABI, der Arbeiter- und Bauerninspektion, die sich meist mit Preiskontrollen und Hygienefragen im Handel befasste. Er kannte sich mit meiner Arbeit bei Robotron und den oben erwähnten Schwierigkeiten bestens aus und bat mich um meine offene und ehrliche Einschätzung zur entstandenen Situation. Er wollte das Gespräch streng vertraulich unter vier Augen führen. Im Wohnzimmer eröffnete er mir, er habe an der Haustür eine kleine Notlüge benutzt und zeigte mir jetzt seinen roten Klappausweis des MfS am Lederband. Das von ihm gewünschte Gespräch könnten wir aber nicht jetzt und nicht hier führen. Er schlug mir vor, dass wir uns in einer Woche nach Arbeitsschluss beim Klapperbrunnen am Busbahnhof Karl-Marx-Stadt treffen sollten.

 

Klapperbrunnen r

Klapperbrunnen von Johann Belz am Busbahnhof in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz  (Bild: Karlheinz Reimann) 


Eine erste Lektion "Geheimdienst"

Mit vielerlei Gedanken im Kopf ging ich am 16. Oktober 1975 dorthin, wo mein Gesprächspartner mich bereits erwartete. Als ich mich auf etwa 10 Meter genähert hatte, gab es einen kurzen Blickkontakt mit der Bedeutung, ihm zu folgen. Wir liefen in diesem Abstand durch die Grünanlage am Busbahnhof in die Karl-Liebknecht-Straße und betraten das Haus Nummer 37. Im Erdgeschoß öffnete er eine typische Altbauwohnung, an deren Tür ein Pappschild mit Reißzwecken befestigt war, beschriftet mit Kuli auf den Namen „Nobis“, was einen leicht asozialen Eindruck machte. Innen hinter der Tür hing ein Vorhang aus einer dicken Filzdecke. Als die Tür hinter uns geschlossen war, begrüßte Walther mich freundlich mit Handschlag. Im Zimmer eine solide Einrichtung mit Schrank, Sessel, Tisch, Couch, an den Wänden Werbefotos von Robotron. Im geheizten Kachelofen stand eine Kanne mit heißem Kaffee. Später tranken wir einen Kognak, wobei ich Wert darauf legte, dass es bei einem blieb. Im Nachbarzimmer lief vermutlich ein Tonbandgerät, denn Walther machte von unserem Gespräch über vier Stunden keinerlei Aufzeichnungen. Wie ich später aus Stasi-Akten erfuhr, befand ich mich hier in der konspirativen Wohnung „Wenzel“, die ein MfS-Offizier auf seinen tatsächlichen Namen angemietet hatte und die selbst beim MfS nur einem kleinen Mitarbeiterkreis bekannt war. Mein Gesprächspartner, der mein Führungsoffizier werden sollte, war damals Unterleutnant, im Bereich XVIII zuständig für die Kontrolle der Volkswirtschaft und speziell für Robotron. Das Gespräch verlief in einer ungezwungenen, lockeren Atmosphäre über fachliche Probleme in der Arbeit, über Eigenschaften und Fähigkeiten der beteiligten Mitarbeiter und Leiter, über persönliche Sympathien und Antipathien zwischen ihnen, wobei ich bestrebt war, niemandem zu schaden und nichts anzusprechen, was das MfS nicht bereits wissen musste. Nach etwa zwei Stunden kam Unterleutnant Walther zielstrebig zur Sache: Der Erfolg unserer Arbeit und die Verantwortung gegenüber dem sowjetischen Partner sei gefährdet, weil wichtige Informationen zum Klassenfeind im Westen abfließen würden. Das MfS habe gesicherte Erkenntnisse darüber und sei nun bestrebt, dies zu unterbinden. Da der Gegner verdeckt angreife, müsse das MfS ebenfalls verdeckt arbeiten. Man habe sich über mich eingehend informiert und schätze ein, dass ich für eine solche Aufgabe geeignet sei. Natürlich war das alles eine primitive Legende (im Sprachgebrauch des MfS) oder zu gut Deutsch eine Lügengeschichte.


Berichte über mich an die Stasi von "lieben" Kollegen

Tatsächlich hatte die Stasi ein Jahr lang  Informationen über mich gesammelt. Aus meinem Arbeitsumfeld fand ich in meiner Akte Berichte von elf IM, meist gute Kollegen oder vorgesetzte Leiter. Die Berichte der Verfasser sind überwiegend so geschrieben, dass mir damit nicht geschadet werden sollte,  aber der Zweck der Abfrage erkannt wurde.  Die Einschätzung von IM "Hans-Jürgen" ist von  Sachlichkeit und viel  löblicher Anerkennung  für mich und meine Arbeit geprägt.  Dagegen ist der Bericht von IM "Willy" schon bedenklich und für meine berufliche Karriere bei Robotron alles andere als förderlich, wenn er mir Anfälligkeit für "westliche Philosophien", "IBM-Ideologie" und "ungünstigen Einfluss durch die Schwiegereltern aus der BRD" bescheinigt oder meine gelegentliche Kritik an  unserer unproduktiven Arbeitsorganisation anprangert. In unserer gut bestückten Bibliothek im Haus las ich gern in der Monatszeitschrift "Führungspraxis" aus dem Westen, um danach im Kontrast dazu wieder in unsere sozialistische Realität einzutauchen. Nach der Wende war es ihm sehr peinlich und nicht mehr nachvollziehbar, was er damals über mich berichtet hatteAndere Berichte enthalten Belanglosigkeiten, sind nicht belastend, mehrere loben an mir Offenheit, Kontaktfreudigkeit, Zuverlässigkeit und  überlegtes Vorgehen, also persönliche Eigenschaften, die mich für das MfS als „geeignet“ erscheinen lassen. Aus dem Wohnumfeld hat nur eine "Quelle" aus dem Gemeindeamt Kleinolbersdorf, die als Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit (GMS) unter ihrem echten Namen Wahres, Vermutetes und Erfundenes, niveaulosen Tratsch über mich und unsere Familienverhältnisse,  ob West-Besuche stattfinden und West-Fernsehen vorhanden ist, der Stasi mitgeteilt, was in dem sechsseitigen "Ermittlungsbericht"  über mich von Unterleutnant Walther breiten Raum einnimmt. 

 

Hans Jürgen

Bericht von IM "Hans-Jürgen", Bereichsleiter bei Robotron.   (Aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann)

 

Willy

Bericht von IM "Willy", Projektleiter bei Robotron.   (Aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann)

 

Anton

Bericht von IM "Anton", einem guten Kollegen, über einen Sicherheitsverstoß, weil mein Schreibtisch nicht verschlossen war.  (Aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann)


Schulze 1

Schulze 2

Bericht von IM "Schulze", einem befreundeten Kollegen. Angefordert von Unterleutnant Walther nach meiner  Ablehnung zur  Zusammenarbeit mit dem MfS.   (Aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann)

Stefan
Bericht von IM "Stefan", Bezirksdirektion der Deutschen Post Karl-Marx-Stadt. Angefordert von Unterleutnant Walther nach meiner Ablehnung zur Zusammenarbeit mit dem MfS. Auf der Suche nach einer "Druckkulisse"  wie verdächtige  Amateurfunkkontakte mit Partnern im Westen oder einem strafbaren Funkverstoß. (Aus der Satsi-Akte von Karlheinz Reimann) 

 

Nun wird das "Gespräch" ernst ... 

Ziel des Gespräches sei deshalb die Frage, ob ich bereit sei, das MfS bei seiner verantwortungsvollen Aufgabe zur Sicherung unserer Volkswirtschaft zu unterstützen. Nun war die Katze aus dem Sack. Obwohl nicht ganz unerwartet, hatte mich der Schreck doch getroffen. Es folgte ein Pokerspiel und Ausloten nach der Devise „was wäre wenn … “ Wenn im Betrieb eine Abteilungsleiterstelle zu besetzen wäre, würde sich das MfS dabei natürlich für mich einsetzen, und gegen besuchsweise Einreisen aus der BRD zu unserer Familie hätte das MfS keine Einwände. „Warum hatte das MfS mit einer solchen Aufgabe gerade an mich gedacht, wo ich doch als Nicht-Mitglied der SED über Unzulänglichkeiten des DDR-Alltags mit kritischen Bemerkungen oft nicht besonders zurückhaltend war“, wollte ich wissen? "Weil ich gerade dadurch das Vertrauen meiner Mitarbeiter hätte“, war die Antwort. Wer würde sich schon beispielsweise gegenüber dem Genossen K. , der immer alles positiv einschätzt, mit seiner ehrlichen Meinung öffnen. Wie dem auch sei, ich war von Anfang an der festen Überzeugung, das "Angebot" abzulehnen. Aber wie, ohne mich und meine Familie zu beschädigen bis ans Ende unseres Lebens in der DDR? Ich musste Zeit gewinnen zum Nachdenken. Nach vier Stunden Diskussion hatte ich heftige Kopfschmerzen, seit Mittag nichts mehr gegessen und war ziemlich ausgepowert, aber ich hatte nicht den Mut zur Ablehnung. Ich bat um Bedenkzeit. Wir vereinbarten ein weiteres Gespräch in vier Wochen. Bevor wir auseinander gingen, musste ich die mir diktierte Schweigeverpflichtung unterschreiben, die ich auch einhielt. Ich wusste, dass nur ich mir selbst helfen konnte und wollte meine Frau damit nicht belasten. Es folgten Nächte mit schlaflosen Stunden. 

 Schweigeverpflichtung

Diktierte Schweigeverpflichtung, die Karlheinz Reimann beim ersten Gespräch in der konspirativen Stasi-Wohnung "Wenzel" auf der Karl-Liebknecht-Straße 37  unterschreiben musste.  (Aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann)

 

Das zweite "Gespräch" wird noch ernster ...

Am 4. November ging ich wieder in die konspirative Wohnung, diesmal kannte ich den Weg allein. Erwartet wurde ich von Unterleutnant Bernd Walther und seinem Vorgesetzten, Hauptmann Klaus Mädler. Man schien sicher zu sein, dass ich heute meine Verpflichtung unterschreiben würde. Das Gespräch führte vorwiegend Walther, Mädler machte einen strengeren Eindruck und sich ab und zu Notizen. Wieder ging ein Pokerspiel hin und her. Meine Frage zum Stasi-Objekt Adelsberg schnitt Walther scharf ab, in seiner Niederschrift nennt er sie eine versuchte Auskundung. Von meinem Hobby als Amateurfunker hätte das MfS angeblich nichts gewusst, obwohl das in jedem Bericht über mich als Besonderheit zu lesen war. Dabei bin ich sicher, dass auch die vorhandenen funktechnischen Kenntnisse für einen zukünftigen IMV eine wichtige Rolle gespielt haben. Wurde das von Walther bewusst als "noch nicht spruchreif" zurückgehalten? Auch unsere umfangreiche Westverwandtschaft war zur Tarnung eines IMV gut geeignet. Nach gut drei Stunden in der Mangel fasste ich mir ein Herz mit folgender Position: „Wenn es zur Stärkung der Wirtschaft in der DDR erforderlich sei, technisches Wissen auf Ausstellungen bei der Konkurrenz im Westen auszuspähen, sei ich dazu bereit. Das machen die Japaner bei Freund und Feind in der ganzen Welt. Wenn ich aber eine Meldung oder einen Bericht über einen meiner Kollegen abgeben soll, weil er einen politischen Witz erzählt oder sich zu einem politischen Ereignis kritisch geäußert habe, dann sei das mit mir nicht zu machen. Ich habe ein ehrliches Verhältnis zu meinen Kollegen und das soll  auch künftig so bleiben.“ Punkt. Erleichterung bei mir, weil es nun raus war. Aber auch Unsicherheit über die möglichen Folgen. Eine längere Pause unterbrach ich mit der Frage: „Und nun sagen Sie mir bitte, was jetzt mit mir passiert?“ Mädler zeigte sich verärgert. Walther bedauerte, dass viel Vorarbeit (nach Aktenlage ein Jahr IM-Vorlaufakte mit einem Dutzend IM-Berichten) in mich investiert worden sei, aber nun leider ohne den gewünschten Erfolg. Er äußerte sich trotzdem versöhnlich mit dem Satz: “So lange Sie bei Robotron sind, werden Sie nicht untergehen.“ Es erfolgte nochmals eine Belehrung über die Schweigeverpflichtung. Dann konnte ich gehen. Ich bin vom MfS nie wieder angesprochen worden. 


Irgendwann 1976 musste Unterleutnant Walther den  "Beschluss" XIV/997/74 über die vorgesehene Werbung des IMV "Klein" vom 11.7.1974 nun ersteinmal ablegen mit der Eintragung „Der Kandidat lehnte eine Zusammenarbeit mit dem MfS ab, weil er angeblich in innere Konflikte gerät, wenn er das MfS über ihm nahestehende Personen informiert". Dieses  für mich gute Zeugnis, amtlich ausgestellt vom MfS, ist mir nach der Wende in meiner beruflichen Tätigkeit  bei der Telekom  wertvoll  gewesen. Nachdem die "Gauck-Behörde" ihre Arbeit aufgenommen hatte, gab es auch  Kollegen, die mit der Vorlage ihrer Stasi-Akte  eine  Anhörung bekamen und danach  das Unternehmen fristlos verlassen mussten. 

Beschluss S1

Beschluss (Seite 1 )  zur IM-Werbung aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann

Beschluss S4

Beschluss (Seite 4)  zur IM-Werbung aus der Stasi-Akte von Karlheinz Reimann

 

Aber der Schein trügt, der "Tanz" war noch nicht zu Ende

Wenn ich später im Haus Robotron Walther zufällig begegnete, dann so, als hätte er mich niemals gesehen. Ich habe keine nachteiligen Folgen aus dieser Entwicklung gespürt. Erst aus meiner Stasi-Akte habe ich erfahren, dass anschließend ein OPV (Operativer Vorgang) angelegt wurde mit dem Ziel, mich in einer Gaststätte mit einem mir unbekannten Herren (IM „Schröder“, Klaus Sturzbecher, Leiter im VEB Geräte-Werk Karl-Marx-Stadt) in ein Fachgespräch zu verwickeln, wobei er mir Dienstgeheimnisse entlocken sollte. Über eine strafrechtliche Verfolgung des Geheimnisverrates sollte dann eine erneute Werbung „unter Druckkulisse“ erfolgen. Das Vorhaben wurde von Walthers Vorgesetzten als ungeeignet eingeschätzt und verworfen, auch weil es leicht zur Gefährdung der Quelle, zur Dekonspiration des IM „Schröder“ führen könnte. Um seine intensiven Bemühungen nach oben zu unterstreichen, hat Walther Protokolle über ein drittes und viertes Werbegespräch mit erfolglosem Ausgang im Frühjahr 1976, die niemals stattgefunden haben, in meine Akte eingebracht. Den vorgesehenen OPV hat offensichtlich Walther zunächst „im Sande verlaufen“ lassen. 

Aber im Geheimen ging die Suche nach einem Straftatbestand für eine erneute Werbung unter Druckkulisse  weiter. Neue Berichte über mich aus dem Arbeitsumfeld wurden angefordert und die Postkontrolle für Briefe sowie die Postzollkontrolle für Paketsendungen eingeleitet. Einige Briefe an Freunde und Bekannte in der BRD sind so als Kopie in meiner Stasi-Akte erhalten geblieben. Mein Amateurfunktagebuch wurde von der Deutschen Post abgeholt und war wochenlang zur "Durchsicht" unterwegs - auf dem Kaßberg, wie mir auf Nachfrage bei der Post bedeutet wurde. Offenbar wurde nichts gefunden, das für eine erneute Ansprache unter Druck durch das MfS aussichtsreich gewesen wäre.


Warum gerade ich?

Warum bin ausgerechnet ich, der sich zuweilen auch nicht mit Kritik am System der DDR zurückhielt, 1974 für die Stasi interessant geworden? Heute bin ich  sicher, dass dies nach einer gut gemeinten Empfehlung zur Förderung meiner beruflichen Karriere geschehen ist.

Mein Freund Rudi B. musste um 1969 für seine Tätigkeit beim Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt  im Abendstudium die mittlere Reife nachholen. Über viele Monate haben wir dafür gemeinsam Stoff und Prüfungsaufgaben  in  Deutsch, Mathematik und Physik geübt. Später hat er mir in einer sehr brisanten Angelegenheit, der Übersiedelungstragödie meiner Schwiegereltern von Mannheim zu uns nach Kleinolbersdorf,   eine  wichtige  Information aus dem Zentralspeicher der Stasi auf dem Kaßberg beschafft - ein  unglaublicher Vorgang! - und enormes Risiko für ihn. Der Schwiegervater war hier nicht erfasst, die schwerwiegenden Anschuldigungen aus dem Gemeindeamt Kleinolbersdorf und des örtlichen SED-Klüngels, die auf sein politisches Engagement in der NSDAP zielten, waren zweifelsfrei erfundene Verleumdungen. Mit diesem Wissen waren wir gut gerüstet mit unserer Eingabe an den Staatsrat der DDR und vier Wochen später war die Angelegenheit in höchster Instanz, im Innenministerium der DDR,  zu unseren Gunsten geklärt. Aber das ist wohl nicht die einzige Dankbarkeit gewesen, die Rudi B. mir - auch zu seinem Nutzen - erwiesen hat. Seine wiederholten merkwürdigen "Informationsbesuche" bei mir in den Monaten vor der Ansprache durch das MfS lassen vermuten, dass er auch hier eine gutgemeinte Rolle gespielt hat, die  aber meinem Bestreben widersprach.  

Fachlich war ich für  Stasi-Unterleutnant Bernd Walther eine Fundgrube: Spezialist für Elektronik und Datenverarbeitung mit Hochschulabschluss, erfahrener Amateurfunker, im gestandenen Alter von 35 Jahren, mit fester Familienbindung, parteilos und zur Tarnung mit umfangreicher Verwandtschaft und Bekanntschaft im Westen. Was er bis dahin noch nicht wusste: Charakterlich war ich völlig ungeeignet. Denn wer bestrebt ist, aufrichtig und ehrlich mit anderen Menschen umzugehen, kann sie nicht mit Legenden, Täuschungen, Zersetzung und dem ständigen Missbrauch ihres Vertrauens - den alltäglichen Werkzeugen der Stasi - bearbeiten. Und so wurden die Gespräche mit der Stasi  zu einer Enttäuschung für meinen zukünftig vorgesehenen Führungsoffizier Bernd Walther.

Resümee: 

Die Anwerbekampagne der Stasi war ein aufregendes Ereignis in meinem Leben. Sie hat mich 1975 eine Zeitlang  belastet und auch geprägt. Ein Opfer wie Bauer Wetzel oder viele andere, die unter der Stasi schwer gelitten haben, bin ich aber nicht. Ich bin von Unterleutnant  Walther eigentlich fair behandelt worden. Das lag vermutlich auch daran, dass in meinem Fall eine Werbung durch Überzeugung (korrekter:  durch Überredung)  vorgesehen war und  weitere Perspektiven offen gehalten werden sollten, die nur mit meinem persönlichem Engagement realisierbar  gewesen wären. 

Nach der Wende hätte ich mit Bernd Walther, der 1990 als Oberstleutnant des MfS entlassen worden ist, unser Gespräch von 1975 gern noch einmal aufgenommen, aber seine Spur ist vom Wind der Zeit verweht. Klaus Mädler hat nach Entmachtung der Staatsicherheit mit westlicher Hilfe in die Immobilienbranche gewechselt. Zunächst war er einige Jahre Chef der Niederlassung von "Blumenauer Immobilien" in Chemnitz, im Steinhaus an der Clausstraße. Das renommierte Maklerunternehmen mit Stammsitz in Königstein bei Frankfurt am Main konnte offensichtlich in Chemnitz einen zackigen Statthalter mit Geheimdiensterfahrung gut gebrauchen. Später firmierte in Chemnitz ein eigenständiges Unternehmen als „KM Immobilien und Unternehmensberatung“ – mit „KM“ für Klaus Mädler.

IM "Hans -Jürgen" hat die Friedliche Revolution 1989 nicht mehr erlebt. Ich glaube, er hätte sie sehr begrüßt, auch um sein Gewissen zu erleichtern. IM "Willy" hat seine  zweijährige Zusammenarbeit mit der Stasi 1976 von sich aus beendet - Chapeau!  Mit ihm hatte ich nach der Wende stundenlange Gespräche des Erklärens, Bekennens und Verzeihens und noch viele Jahre eines guten Miteinander als Ruheständler. IM "Anton" hat sich kurz nach der Wende von Chemnitz entfernt, er soll in Wismar im Alkohol einen "falschen Freund" gefunden haben. IM "Schulze" hat die Zeichen der Zeit schnell erkannt, war eine Zeitlang  für die Treuhand tätig und ist ein erfolgreicher Unternehmer in Chemnitz geworden. IM "Stefan" hat seine herausgehobene Stellung bei der Bezirksdirektion Karl-Marx-Stadt der Deutschen Post verloren, wurde aber Mitarbeiter der Deutschen Telekom im Fernmeldeamt Chemnitz. Er ist nach der Wende nicht mehr wie bisher für Ablehnung, sondern jetzt für die Realisierung von Telefonanschlüssen in Chemnitz tätig geworden. 

Ich habe  Robotron 1990  nach 27 Jahren Erfahrung als Entwicklungsingenieur verlassen. In den letzten  vier Jahren bei Robotron hatte ich mich  auf Forschung und Entwicklung zur Informationsübertragung mittels Lichtwellenleitern in der Automatisierungstechnik spezialisiert. Bei der Deutschen Telekom  boten sich mit diesem Wissen neue Perspektiven in der Netzgestaltung mit Glasfaserkabeln. Mit einer Berufung 1992 durch die  Generaldirektion Deutsche Telekom Bonn wurde ich dem FTZ Darmstadt zugeordnet und als Firmenbeauftragter der Telekom für die Firma "Kommunikations-Elektronik Hannover" bundesweit für den technischen Support für die von dieser Firma neu entwickelten  Teilnehmeranschlussnetze HYTAS mit Kupfer- und Glasfaserkabeln beauftragt. Das gute "Zeugnis des MfS" hat mir dabei zu viel innerlicher Ruhe verholfen. Ich war mit meiner Entscheidung von 1975  immer - auch mit dem Verzicht auf Karriere während der DDR-Zeit - und umso mehr nach unserer Friedlichen Revolution 1989 sehr zufrieden. 

Anmerkungen:

(1)   Müller-Engbergs, Helmut  "Inoffizielle Mitarbeiter des MfS", BStu, Berlin 2008



Klaus Behling, Schriftsteller aus Potsdam, danke ich für das Interesse an meiner Geschichte der versuchten Anwerbung durch die Stasi. Er hat sie nach meinen Unterlagen und unseren Gesprächen beschrieben und unter dem Titel  "Gegen den Strom" in sein Buch aufgenommen:

"Licht ins Dunkel" von Klaus Behling

Zwanzig Schicksalhafte Geheimdienstaktionen aus Ost und West.
Berlin Story Verlag 2014, Seite 138 bis 149.


Über den Autor:

Klaus Behling