von Karlheinz Reimann,

geschrieben im Dezember 2010 (nach persönlichen Aufzeichnungen von 1991)

Manfred Beyer (Name geändert) lebt mit seiner Frau und der heranwachsenden Tochter in  einem Städtchen im Vogtland. Er hat sein Hobby - das Fotografieren - zum Beruf gemacht. Mit der Arbeit bei der DEWAG verdient er sein Einkommen und ist damit eigentlich zufrieden. Auch in seiner Freizeit geht er seiner Leidenschaft nach, längst hat er seine künstlerischen Ambitionen entdeckt. Er ahnte damals nicht, dass sich später sein Leben dramatisch ändern wird, weil er durch das Fotografieren in eine Erpressung durch die Staatssicherheit gerät.


Viele seiner gelungenen Fotos sind in Büchern und anderen Publikationen zu finden. Im Kulturbund der DDR ist er ein anerkanntes und geachtetes Mitglied. Auf der Suche nach interessanten Motiven in der Natur streift er häufig mit  seiner Kamera auch durch Feld und Wald. Was er aber nicht weiß: Anfang der  achtziger Jahre folgt ihm der ABV in sicherer Entfernung auf Schritt und Tritt durch die herbstliche Flur, notiert  minutiös jede seiner Handlungen, liefert am nächsten Tag seine Aufzeichnungen  an seinen Auftraggeber. Mehrmals wiederholt sich die Observation in den  nächsten Wochen, ohne dass weiteres passiert. Als die Frühlingsblumen sprießen,  erhält Manfred Beyer eine schriftliche Vorladung in das Volkspolizeikreisamt „zur Klärung eines  Sachverhaltes". In einem separaten Zimmer erwarten ihn zwei Herren in Zivil, angeblich Ermittler der Kriminalpolizei, und haben Fragen, was er an einem bestimmten Oktobertag des vergangenen Jahres zwischen 14 und 16 Uhr gemacht hat. Manfred  Beyer kann sich an nichts erinnern und keine Auskunft geben. Aber die beiden  Herren „helfen" ihm, sich zu erinnern. Sie wissen genau, wann er wo mit der Kamera herumgelaufen ist, auch dass sich  in der Nähe ein Militärobjekt der Roten Armee befindet und behaupten, dass  er beobachtet wurde, als er dieses  fotografiert hat. Manfred Beyer weist die Anschuldigungen zurück, er wisse sehr wohl um das Verbot und habe es immer  strikt beachtet, er sei gar nicht in der Nähe des Objektes gewesen. Er will  ihnen unverzüglich den Film mit allen Negativen aus dieser Zeit und Gegend als  Beweis seiner Unschuld übergeben. Doch die Herren wehren ab, die betreffenden Negative habe er längst beseitigt, der Sachverhalt sei durch Zeugen eindeutig belegt, er habe sich nun vor Gericht wegen Militärspionage zu  verantworten. Sie wollen wissen, an wen  er diese Bilder geliefert hat. Das Gespräch ist knallhart geworden und immer  wieder wird er mit diesem Vorwurf konfrontiert. Er soll seine Tat nun  eingestehen und das Protokoll unterschreiben. Es vergeht viel Zeit, Manfred  Beyer ist verzweifelt, er denkt an seine Frau und seine Tochter und begreift  immer mehr, dass er seine Unschuld nicht beweisen kann. Er weiß nicht, wie es  weiter gehen soll. Als er mental völlig am Boden ist, schlagen die Herren einen  versöhnlicheren Ton an. Sie wissen so viel aus seinem persönlichen Leben, über  seine gute und gewissenhafte Arbeit, über seine intakte Familie. Und sie machen  ihm ein Angebot: Sie sind bereit, seine Straftat „auf andere Weise" zu regeln, wenn auch er bereit ist, seine ganze Kraft zum Schutz der DDR einzusetzen. Als  sie nach mehreren Stunden auseinander gehen, hat Manfred Beyer eine Verpflichtung als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) der Staatssicherheit unterschrieben,  sich einen Decknamen gegeben und sich angesichts der betreffenden Paragrafen  des Strafgesetzbuches der DDR zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Für  einen kurzen Moment fühlt er sich erleichtert. Dann wird ihm klar, dass sich  sein Leben mit diesem Tag dramatisch verändert hat. Auf seinen Körper legt sich  eine bleierne Schwermut, die er bis zum Herbst 1989 nicht mehr loswerden wird.

Manfred Beyer wird von seinem Führungsoffizier kollegial in die konspirative Arbeitsweise eines IM eingewiesen, lernt mittels Legenden gezielte Ermittlungen unter Kollegen im Arbeitsbereich, im Kulturbund oder zu Personen im Wohngebiet durchzuführen. Die Ergebnisse übermittelt er meist persönlich bei einem Treff mit seinem Führungsoffizier. Die Beyers haben kein Telefon und sie bekommen auch keines. Die Einladung zum Treff erhält Manfred Beyer meist als Mitteilung mit einer offenen Postkarte: „Die Vergrößerungen seiner Fotos seien fertiggestellt und lägen an einem bestimmten Tag ab einer bestimmten Uhrzeit zur Abholung bereit", heißt es da. Diese angenehme Nachricht teilt ihm manchmal   seine Frau mit, wenn er nach Hause kommt. Sie ahnt über viele Jahre nicht, welch schwerer Gang ihrem Mann dann bevorsteht, welche Last ihn bedrückt. Er weiß, wo in der Stadt sein Führungsoffizier in einiger Entfernung auf ihn wartet und wo sie sich dann in einer konspirativen Wohnung treffen werden. Aber er kommt meist „mit leeren Händen" dorthin, er will niemandem einen Schaden zufügen, sein Gewissen nicht belasten. Er berichtet über banale Sachen, die die Staatssicherheit ohnehin schon weiß, entschuldigt sich mit Krankheit oder anderen Umständen. Der Führungsoffizier findet wenig zum „Abschöpfen", ist unzufrieden mit Manfred Beyer. Aber er gibt  ihn nicht frei, er lobt ihn weg zu einem anderen Führungsoffizier. Weil Manfred  Beyer weiß, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit auch die  Ehrlichkeit ihrer IM testen, will er sich schützen und berichtet, dass seine Frau die Tochter engagiert im christlichen Sinne erzieht und die Tochter aktiv in der Jungen Gemeinde tätig ist. Er könne dies aber nicht verhindern, weil er  darauf keinen Einfluss habe. Sein Führungsoffizier zollt ihm dafür Anerkennung.  Später empfindet Manfred Beyer dies als Verrat an den Menschen, die ihm am  allernächsten stehen, die er liebt und die ihn lieben. Darunter leidet er nun umso  mehr. Auch der zweite Führungsoffizier kann Manfred Beyer eigentlich nicht gebrauchen, trifft ihn seltener, schleppt ihn noch ein paar Jahre einfach so mit.

Dann kommt der Herbst 1989. Im Dezember werden innerhalb von 48 Stunden alle Kreisdienststellen der Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt von Bürgerrechtlern unter Mitwirkung von hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit aufgelöst, die Akten zu Bündeln geschnürt und mit Fahrzeugen von Volkspolizei oder Staatssicherheit zentral nach Karl-Marx-Stadt gebracht. Im Schießkeller des Stasi-Objektes Adelsberg werden sie mit Schubkarren einfach ausgeschüttet. Was an Akten in den vorangegangenen sechs Wochen nicht vernichtet werden konnte, liegt nun  als riesiger Aktenberg, als unauswertbares Chaos von 22 Kreisdienststellen hier.  Bürgerrechtler, darunter mehrere Frauen aus Adelsberg, werden anschließend wochenlang von früh bis spät in vertraulicher Tätigkeit Akten  einsehen, ihre Zugehörigkeit ermitteln und sie wieder nach Kreisdienststellen  in Container sortieren. Diese Akten werden so für die später gegründete  Gauck-Behörde sichergestellt. Das sind unzählige Bündel von persönlichen Schicksalen, gebrochenen Karrieren, zerstörten Familien und Inhaftierungen, und manche der Frauen sagt, dass sie das Gelesene auch in der Nacht nicht loslässt. Manches ist so absurd, dass es schon wieder lächerlich ist: Ein zwölfjähriger Junge aus Karl-Marx-Stadt wurde  "erfasst", sein Delikt ist eine offene Postkarte mit kindlicher Schrift an "Heino", die seiner Akte im Original  beiliegt. Unter diesen Akten befindet sich auch die des IM Manfred Beyer, die im Sommer 1989 abrupt endet. Sein Leidensweg hat ihn in fast zehn Jahren psychisch belastet und zerrüttet. Darüber zu lesen, geht mir unter die Haut, gräbt sich in mein Gedächtnis ein. Ihn als IM öffentlich zu machen, wäre verantwortungslos, könnte ihn nun noch physisch zerstören. Er war kein Täter, er ist vor allem ein Opfer. Wer ihm vorhalten möchte, dass er als unbescholtener Bürger der Erpressung durch ein Staatsorgan der DDR nicht widerstanden hat, ist wohl nicht von dieser Welt. Die Entmachtung der Staatssicherheit, Manfred Beyers Befreiung aus ihren Polypenarmen, war für ihn der Beginn eines neuen, eines wahrhaft freien Lebens. Er wird viel Kraft  aufbringen müssen, sich seiner Familie zu offenbaren, auf ihr Verständnis und ihre Liebe zu vertrauen. Für ihn und seine Familie ist es sicherlich das schönste Weihnachten seit zehn Jahren geworden, schweigend habe ich es ihm damals von Herzen gewünscht. Dann wäre das Ende der Leidensgeschichte des Manfred Beyer noch zu einer anrührenden Weihnachtsgeschichte geworden - zu einer Weihnachtsgeschichte aus Absurdistan.